Arne Brand (2015): Das Virtuelle sichtbar machen – Öffentlichkeitsarbeit des Virtuellen Ortsvereins der SPD (VOV)

New York, Rio, Tokio … wo heute die Öffentlichkeitsarbeit gemacht wird, hängt immer weniger vom tatsächlichen Aufenthaltsort und immer mehr von einer stabilen Verbindung ins Internet ab. Das Internet hat viele digitale Schaffende frei von den Fesseln des Aufenthalts gemacht und Informationen in einer Form zur Verfügung gestellt, die in früheren Dekaden nur in Science-Fiction Filmen selbstverständlich war.

Die Information ist virtualisiert worden, sie ist nicht mehr an eine Bibliothek, an ein Zeitungsarchiv gebunden, sondern sie ist in Nullen und Einsen aufgespalten in den Tempeln der modernen Informationsgesellschaften über das Netz verfügbar. Die einzige Fessel, die wir dabei haben, ist eine stabile Anbindung an das Netz und die ist oft schon in den Hotelzimmern im Westen Deutschlands eine Herausforderung.

Die Virtualisierung des Zugangs zu Informationen betrifft nicht nur die Information selber, sondern auch damit verbundene Prozesse. Wo wir in den 80er Jahren noch in eine Behörde gehen mussten, um eine bestimmten Antrag zu stellen, können wir vieles heute online erledigen. Das kommt der modernen Informationsgesellschaft entgegen, weil auch andere Prozesse die digitale Einbindung vorgenommen haben, ja sogar auf sie angewiesen sind. Wir müssen online gehen, um bestimmte Anträge zu stellen, bestimmte Güter einzukaufen und uns beraten zu lassen, weil die immer weiter flexibilisierte Freizeit dazu weniger Raum innerhalb traditioneller Öffnungszeiten lässt.

Die Entwicklung der letzten Jahre hat auch die Politik nicht unberührt gelassen. Die politische Willensbildung ist digitaler geworden, wenn auch wesentlich langsamer und schwieriger, als das in anderen Lebensbereichen der Fall ist. Es ist einfacher, ja selbstverständlicher, bei großen amerikanischen Versandhäusern etwas zu finden und zu bestellen als am politischen Willensbildungsprozess teilzuhaben.

Selbst Parteien, die sich das Digitale groß auf die Fahnen schreiben, wie etwa die Piraten, nutzen zur Willensbildung vor Ort noch größtenteils traditionelle Mittel wie Versammlungen und andere reale Treffen. Die virtuelle Willensbildung ist zwar fest in den Ablauf integriert, es handelt sich aber um keine rein virtuelle Partei.

Die traditionellen Parteien werden nicht gerade damit in Verbindung gebracht, mit dem digitalen Fortschritt im wahrsten Sinne des Wortes Schritt zu halten. Dabei tut man fast allen großen Parteien damit Unrecht, denn Ende der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts bildeten sich bereits mehr oder weniger virtuelle Ableger heraus.

Die erste und auch am meisten virtuelle Parteiorganisation dieser Art war der Virtuelle Ortsverein (VOV) der SPD. Gegründet im Jahr 1995, begleitete der VOV den Aufstieg des Internets und damit den einhergehenden digitalen Wandel von Anfang an mit.

Die Willensbildung erfolgte im VOV dabei einer bewährten Methodik, mit dem Stellen von Anträgen, der Diskussion dieser Anträge und der Beschlussfassung. Das Besondere dabei war die gewählte Form, es handelte sich um eine ständige Vollversammlung in der 24 Stunden am Tag virtuell über eine Mailingliste diskutiert werden konnte.

Während eine neue und dazu noch kleine Parteiorganisation mit Beschlüssen und dem Durchsetzen in der parlamentarischen Demokratie eher weniger direkten Einfluss ausüben kann, hat sie die Möglichkeiten der Veröffentlichung ihrer Beschlüsse und Meinungen und somit dem Ausüben eines Einflusses auf das öffentliche Meinungsbild und Entscheidungsträger in Politik, Wirtschaft und Behörden. Manchmal ging es natürlich auch nur darum, die Augen der Öffentlichkeit auf einen bestimmten Aspekt zu lenken. Der VOV betrieb virtuelle Pressearbeit als wichtigstes Werkzeug um Beschlüsse und Meinungen kundzutun.

Dabei ist Pressearbeit heute längst nicht mehr nur eine Arbeit für „die Presse“, also das Erstellen von Zeitungen auf toten Bäumen, es ist vielmehr das Erstellen von Inhalten für jede Form moderner Medien. Es handelt sich sowohl schriftliche wie klassischen Zeitungen, Blogs und Online-Zeitungen über verbale Medien wie Radio und Podcasts bis hin zu optischen Medien wie Fernsehen und Video-Podcasts. Für jede der traditionellen Medien gibt es inzwischen neue ergänzende und zum Teil auch andersartige Medienformen, wie etwa Blogs und Podcasts. Zu Zeiten des VOV waren diese Formen noch im Entstehen, so dass auch in gewissen Bereichen wichtige Meinungsmacher wie etwa Tech Blogger damals erst im Entstehen begriffen waren. Adressaten der Veröffentlichungen des VOV waren daher oft noch traditionelle Journalisten von Organen, die entweder den Themen besonders zugänglich waren oder für das Zielpublikum besonders interessant.

Der VOV hat auch bei der Veröffentlichung von Meinungen und Beschlüssen keinen Medienbruch betrieben. Es gab keine Pressekonferenzen in der physischen Welt, sondern die Veröffentlichen erfolgten via Mail direkt zu den angeschlossenen Funkhäusern und Journalisten.

Zur Verbreitung der Informationen wurde ein Presseverteiler eingesetzt, in den Journalisten sich über die Webseite des VOV automatisch ein- oder austragen konnten.

Die Webseite stellte das zentrale externe Organ des VOV dar, sie war ständig präsent und bündelte alle wesentlichen Informationen über Inhalt und Gliederung, Funktionsweise und Organisation in fokussierter Form.

Es war möglich, sich umfassend über den VOV zu informieren und – man ahnt es – sogar die Mitgliedschaft im VOV wurde über die Webseite virtuell beantragt und dann in der virtuellen Diskussion im Vorstand und der ständigen Vollversammlung genehmigt oder abgelehnt.

Pressemitteilungen und Beschlüsse konnten im Volltext über die Webseite abgerufen werden und so konnte sich jeder mit entsprechendem stabilen Zugang zum Netz (wir erinnern uns) umfassend über aktuelle und vergangene Themen im VOV auf dem Laufenden halten.

Man wird sich jetzt zurecht fragen, wie die Wahrnehmung des VOV war. Gab es Informationsfluss nur in eine Richtung oder wurde der VOV auch von Journalisten zu bestimmten Themen kontaktiert?

In der Anfangszeit war es sicherlich nicht einfach, eigene Veröffentlichungen des VOV in den Medien zu finden. Es war nicht nur der VOV selber, sondern auch das Thema (das Internet!) unbekannt. Da kamen ein paar digitale Wilde, die eine Meinung über etwas, von dem die meisten Zeitungsleser (und oft auch die Journalisten) keinen blassen Schimmer besaßen, hatten. Was war doch gleich „Kryptographie“ und wieso sollte jemand was außer den Fischern von Bensersiel etwas gegen Netzsperren haben?

Der VOV als seiner Zeit voraus denkender sozialdemokratischer Think Tank wurde bei den Medien langsam angenommen, aber je mehr Fahrt der Ursprung all dieser Themen (das Internet!) aufnahm, desto mehr erinnerten sich Journalisten von Lokalzeitungen bis hin zu führenden deutschen Wochenmagazinen, dass sie doch schon einmal eine kleine Meldung von einem Haufen Sozis in den letzten Wochen in den Händen gehalten hatten, die sich nicht nur mit diesen Themen auskannten, sondern ihre Meinung auch noch verbreiteten.

Nachdem man den Papierordner durchsucht hatte und dann tatsächlich die Schreibmaschine mit Bildschirm (aka Computer) angeschaltet und herausgefunden hatte, dass man damit auch so eine Art Post versenden und empfangen konnte, fand sich (im damals erstaunlich spamfreien) Eingangspostfach doch noch die letzte Meldung des VOV.

Einige Journalisten waren sogar so wagemutig und nutzten die unter jeder Pressemitteilung stehenden Kontaktdaten, nachdem sie erleichtert festgestellt hatten, dass dort nicht nur neuartige Buchstabenkombinationen mit einem Klammeraffen (@) standen, sondern auch noch etwas, das wie eine Telefonnummer aussah, und kontaktierten den VOV.

Manchmal sichtlich erschrocken, dass sich auf der anderen Seite ein Mensch und keine Antwortmaschine meldete, entwickelten sich im Laufe der Zeit für beide Seiten interessante Gespräche und Einladungen zu weiteren Gesprächen, sogar außerhalb des Virtuellen. Die Themen des VOV und der VOV nahmen Fahrt auf und segelten, wie beinahe ein Jahrzehnt später die Piraten, auch auf die (Titel)-Seiten großer deutscher Zeitungen.

Der VOV ließ sich aber in diesem Zusammenhang sogar ab und an zu einem Medienbruch hinreißen, etwa wenn sich das Fernsehen angesagt hatte und es dazu zu Interviews in der Baracke (dem damaligen Bonner Hauptquartier der Bundes-SPD) kam oder der WDR gerne eine Diskussion live (aber nicht in Farbe) zwischen den digitalen Vertretern der Sozialdemokratie und der Musikwirtschaft über die Kriminalisierung von Raubkopierern führen wollte.

Waren, angesichts dieser doch erfolgreichen Öffentlichkeitsarbeit, im VOV geschulte Medienprofis unterwegs? Politiker, die seit langem Erfahrung darin hatten, wie man sich beim Umgang mit Medienvertretern von Lokalredaktionen bis hin zu Live-Interviews im Radio zu verhalten hatte? Mitnichten, aber solange dass die Medienvertreter nicht wussten, war alles gut. Manchmal lernt man am besten, wenn man ins kalte Wasser springt (oder geschmissen wird) und da die Mitglieder des VOV eher zu den offenen und auffassungsstarken Mitgliedern der Gesellschaft gehörten, war die Lernkurve so schnell bewältigt, dass sich Inhalte und Formen der Veröffentlichungen nicht verstecken mussten, ja man war für die Medienvertreter ein zum Teil begehrter Gesprächspartner, weil man selber keine Berührungsängste hatte (wobei Berührung ja auch eine Art Medienbruch ist).

Manchmal fanden Medienveranstaltungen auch in Chaträumen statt, einige Verlage versuchten sich in den damals „neuen Medien“ genannten Formen zu etablieren und nutzten dazu auch damals unkonventionelle Methoden. Das war allerdings ein Terrain, auf dem die Vertreter des VOV den etablierten Medien etwas voraus hatten und sich sicherer bewegten als die medialen Veranstalter solcher Events.

Die Erstellung von Pressemitteilungen selber gestaltete sich durchaus anders als das traditionell der Fall war. So wurden Mitteilungen nicht „vor Ort“ recherchiert, es fanden höchstens mal Telefongespräche statt, aber die Recherche fand online, mit den im Netz vorhandenen Inhalten statt.

Darüber hinaus wurden eigene Inhalten kommuniziert, gefasste Beschlüsse, zu denen zusätzliche Informationen eingeholt wurden. Da Inhalte im Netz größtenteils schriftlich verfügbar sind, war die Angabe von Quellen relativ einfach.

Zusammengestellt wurden die Presseerklärungen des VOV meistens im sogenannten Presserat unter Federführung des Pressesprechers. Das war natürlich auch eine Mailingliste, über die der Entwurf der Pressemitteilung geschickt, diskutiert und korrigiert wurde.

Wenn man sich fragt, warum man Presseerklärungen bei der Verfügbarkeit einer ständigen Vollversammlung einfach mit allen Mitgliedern diskutiert, so kann man nur antworten: Wir haben es versucht!

In einer solchen Versammlung aller Mitglieder herrscht eine hohe Meinungsvielfalt und genau, wie die meisten Beschlüsse nicht einstimmig gefasst werden, sind auch Themen und Formen von Pressemitteilungen selten absolut einmütig, so dass durchaus lebhafte Diskussionen aufkamen und viel Feedback zu den einzelnen Pressemitteilungen. Es hat sich jedoch ein Sprichwort bewährt: Viele Köche verderben den Brei! In diesem Zusammenhang waren von der Vollversammlung bearbeitete Pressemitteilungen oft lang und der eigentliche Zweck war unter so vielen verschiedenen Schichten von Feedback begraben, dass kaum eine klare Aussage mehr erkennbar war.

Wenn man die heutigen Netzthemen betrachtet, dann haben die Themen, die der VOV beginnend vor beinahe 20 Jahren behandelte und zu denen er öffentlich Stellung nahm, einen hohen Wiedererkennungseffekt – es sind die gleichen Themen! Angefangen bei der Verschlüsselung über Netzsperren bis hin zur Vorratsdatenspeicherung zeigt sich heute, wie aktuell der VOV schon damals war.

Hat dann die Öffentlichkeitsarbeit des VOV etwas gebracht? War das virtuelle Experiment real erfolgreich?

Das lässt sich natürlich rückblickend schwer beantworten, aber was sicher ist, dass die frühe und öffentlichkeitswirksame Behandlung solcher Themen durch den VOV gerade in der politisch geprägten Öffentlichkeit ein Bewusstsein gebildet und geschärft hat. Viele der Mitglieder, die damals an Diskussion und Beschlussfassung beteiligt waren, sind heute in Funktionen mit einer Multiplikatorenfunktion. Wenn sich also eine Volkspartei wie die SPD inhaltlich sogar gegen ihren derzeitigen Vorsitzenden stellt und die Basis zu netzpolitischen Themen eine eigene Meinung hat, dann ist das nicht zuletzt auf Organisationen wie den VOV und dessen meinungsprägende Wirkung zurückzuführen.

Daher kann man für die Vergangenheit allen Mitgliedern und Freunden des VOV nur „Danke!“ sagen und angesichts der aktuellen netzpolitischen Lage nur „Glück auf“ wünschen!

Dr. Boris `pi´Piwinger (2015): „de.org.politik.spd“ – Politik im Usenet und die Realpolitik

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Dr. Boris Piwinger AKA π (pi)

Mit Elmi Bins, den ich aus dem Netz kannte, haben wir 1995 die Mailingsliste „Virtueller Ortsverein“ (VOV) im Internet mitbegründet, um den rast- und heimatlosen Parteigängern der SPD eine Diskussionsmöglichkeit im Internet zu bieten. Als Student der Mathematik und Physik an der Universität in Bonn und mit einigen Jahren SPD-Mitgliedschaft im Rücken sah ich mich zur Mitarbeit in politischer Hinsicht gefordert, während Elmi als Internet-Provider der IVM-GmbH die Chance wahrnahm, sein technisches Know-how einzubringen, um das Internet inhaltlich politisch zu nutzen. Ich selbst sollte dem Virtuellen Ortsverein über viele Jahre treu bleiben, Elmi verabschiedete sich dagegen recht bald. Jedoch sein Geschäftspartner Jens Hoffmann blieb sehr aktiv im VOV.

Wie die Kommunikation im Netz anfing – weit vor dem VOV

Die Abteilung ARPA (Advanced Research Projects Agency) des amerikanischen Verteidigungsministeriums (Department of Defense, DoD) untersuchte im Jahr 1960, auf welche Weise man Computer unterschiedlicher Hersteller über Weiterverkehrsnetze (WANs = Wide Area Networks) miteinander verbinden könne und welchen Nutzen das hätte. AT&T spendierte die Telefonleitungen, die Firma BBN (Bolt, Beranek and Newman) wurde ausgewählt, das Netz aufzubauen, und das ganze Experiment wurde ARPAnet getauft. Der auf Anhieb meistgenutzte Dienst im ARPAnet war das Verschicken elektronischer Botschaften (E-Mails), mit denen alle Beteiligten schnell und zuverlässig erreichbar waren. Um über Projekte zu diskutieren, wurden Mailingslisten eingeführt, die eine an den Verteiler gerichtete Nachricht an alle eingetragenen Empfänger weiterleitete. Ein einfaches, aber sehr effizientes Diskussionsmedium war geboren. Ende der 70er Jahre entstand dann das Usenet als Verbund von öffentlich zugänglichen Diskussionsgruppen, quasi die nicht auf einen Benutzerkreis eingeschränkte Version von Mailinglisten.

Der „Geist“ des Usenet

Das Usenet war damals nicht nur ein Verbund von Computern, sondern vielmehr eine sehr große Gruppe von Menschen, die vor allem eins im Sinn hatten: miteinander kommunizieren, andere kennenlernen und mit ihnen diskutieren. So entwickelte sich eine ganz eigene Kultur, und ein bestimmter Geist – früher hätte man wohl „Moral“ gesagt. Das Usenet beruhte auf dem Prinzip des Gebens und Nehmens. Wenn jemand immer nur Fragen stellte, wurde das nicht gern gesehen. Man erwartete, dass ein Fragesteller aus den Antworten lernt und irgendwann selbst einmal Fragen beantwortet.

Lesen und Verstehen

Newsgroups Piwinger Bins
Bins, Elmar K. und Boris-A. Piwinger: Newsgroups: Weltweit diskutieren (1997)

Das Usenet ist ein Gebilde aus Diskussionsforen, das schon länger als das Internet, wie wir es heute kennen, existiert. Damals beschränkte man sich darauf, Nachrichten auf seinem lokalen Rechner einzuliefern, in der Hoffnung, dass der sich noch am gleichen Tag mit den Nachbarrechnern verband, um Daten mit Hilfe eines für heutige Verhältnisse quälend langsamen (300 Bit/s) Modem oder Akustikkoppler über die Telefonleitung auszutauschen. Von ISDN oder gar DSL war damals noch keine Rede, auch nicht von Standleitungen. Man tauschte ein- bis fünfmal am Tag die geschriebenen Beiträge aus und nahm sich anschließend auch die Zeit, diese zu lesen bzw. darauf zu antworten. Heute sind wir daran gewöhnt, dass der Informationsaustausch wahnsinnig schnell stattfindet. Wir sind immer und überall per Mobiltelefon erreichbar, und unsere E-Mails werden nahezu zeitgleich mit dem Versenden schon beim Empfänger auf dem Bildschirm angezeigt. Unter diesen Umständen tendiert man natürlich auch dazu, nicht vollständig Durchdachtes von sich zu geben und andere damit zu verwirren oder sie sogar in ihrem Wohlbefinden zu beeinträchtigen – sprich: ihnen kräftig auf die Füße zu treten.

Die Entstehung von de.org.politik.spd

Wie das mit populären Mailinglisten so ist, die Anzahl der Mitglieder wuchs rasend schnell. Allerdings waren viele von denen, die sich eintragen ließen, mit dem Internet und seinen Gepflogenheiten nicht sonderlich vertraut. Die meisten waren absolute Neulinge, die rein an der inhaltlich-politischen Arbeit interessiert waren und die technische Seite dabei so sehr vernachlässigten, dass sie sich den (aus Internet-Sicht berechtigten) Zorn der Netzerfahrenen zuzogen. Zudem nahm die Anzahl der täglich abgeschickten und weiterverteilten E-Mails einen derartigen Umfang an, dass sich viele überfordert sahen. So und unter dem Aspekt Politik tatsächlich öffentlich zu betreiben, entstand die Idee, den VOV (auch) ins Usenet zu verlagern.

In meiner Funktion als „Usenet-Beauftragter“ starte ich 1995 also einen so genannten RfD (Request for Discussion), um die Newsgroup „de.org.politik.spd“ im deutschen Usenet einzurichten. Der Widerstand war überraschend groß, gab es doch Zweifel daran, ob denn tatsächlich eine SPD-spezifische Gruppe neben den existierenden Gruppen zur Politik allgemein tragfähig sei und vor allem auch klar abgrenzbar. Das machte die Diskussion lang und erbittert. Sie endete dennoch erfolgreich, und die Gruppe wurde eingerichtet.

Leider sollten die Kritiker Recht behalten, und die Gruppe scheiterte. Zum einen waren die meisten VOV-Mitglieder keineswegs bereit, sich derart in die Öffentlichkeit zu begeben. Zum anderen wurde die Gruppe von stalinistisch angehauchten Trollen permanent massiv attackiert. Kein schönes Kapitel, weshalb ich die Erinnerung daran auch gleich wieder verdränge.

 Ganz real

Aber auch die SPD war an „de.org.politik.spd“ nicht wirklich interessiert. Die Anerkennung einer Graswurzelbewegung – wie der VOV es war – war absolutes Neuland. Als Bonner (auf Zeit) und Mitarbeiter von Jörg Tauss im Bundestag war ich dann mit meiner zweiten Aufgabe als „Bonner Repräsentant“ des VOV ziemlich damit beschäftigt, diese Anerkennung in der Partei zu erhalten. Was letztlich in dem Schriftstück endete, das dem VOV erlaubte, den Namen SPD zu verwenden.

03_1997_01_27_VOV_Offizielle_Vereinbarung_mit_PV_Muentefering_Piwinger_Bonn © Petra Tursky-Hartmann

Eine weitere Aufgabe des Bonner Repräsentanten war es, die vom VOV erarbeiteten Inhalte in die Realpolitik zu tragen. Und so habe ich als Mitarbeiter im Bundestag Jörg Tauss unterstützt. Es gab damals ja keine Fraktionsmeinungen zu netzpolitischen Themen. Denn alle Parteien hatten davon herzlich wenig Ahnung. Ja, es gab Experten (deutlich weniger als zehn im Deutschen Bundestag). Und es gab Ignoranten. Also ein ganz anderer Frontverlauf, als man ihn in der Politik gewohnt war. Interessanterweise sind die Themen von damals auch immer noch die Themen von heute, wie z. B. der Zugang zum Netz, Fragen zur Überwachung („Es kann doch nicht sein, dass …“) etc.

Später war ich auch als Webmaster im VOV aktiv und habe einen großen Relaunch umgesetzt. Aber das ist eine andere Geschichte.

Der Niedergang des VOV war jedoch letztendlich nicht zu verhindern. Zu viel Beschäftigung mit sich selbst. Und zu wenig Interesse an den eigentlichen Kernthemen des VOV bei der Mehrheit seiner Mitglieder. Das führte dazu, dass der Virtuelle Ortsverein zu einem allgemein politischen Debattierklub ohne klares Profil verkam. Außerdem ließen sich die von uns erarbeiteten Inhalte weder in der SPD noch in der Öffentlichkeit wirksam platzieren. Als die Partei begann, sich Schritt um Schritt von den Idealen des VOV abzuwenden, läutete das einen schleichenden Exodus der Netzexperten ein. Und so starb der VOV sehr, sehr langsam. So langsam, dass Bruce Willis dagegen wie ein Dilettant anmutet.

Links: Virtueller Ortsverein (VOV)

vorwärts Interview (2011): Ausgebremst: Der „Virtuelle Ortsverein der SPD – VOV“

Petra Tursky-Hartmann
Petra Tursky-Hartmann © Alexander Paul Englert

vorwärts.de: Die Chancen des Internets für die Demokratie nutzen, dafür wirbt einer der Leitanträge auf dem diesjährigen Bundesparteitag. Darin steht: „Wer sich nicht im Ortsverein engagieren will, kann sich online ein geeignetes Mitmachangebot suchen.“ Das klingt ganz nach dem, was der “ Virtuelle Ortsverein“ bereits Mitte der neunziger Jahre verkörperte. Ist der VOV noch aktiv?

Petra Tursky-Hartmann: Den Virtuellen Ortsverein gibt es zwar noch, aber er spielt in netzpolitischen Debatten faktisch keine Rolle mehr. Netzpolitische Debatten in der SPD haben sich in andere Initiativen verlagert, wie den Gesprächskreis Netzpolitik beim SPD-Parteivorstand. Oder den Online-Beirat, der bis 2009 aktiv war. Ich kenne aus Facebook außerdem einige sehr aktive Arbeitskreise, zum Beispiel aus Schleswig-Holstein oder Baden-Württemberg.

Der VOV hat lange mit dem Parteivorstand um ein Antragsrecht gestritten. Im Leitantrag heißt es nun, die SPD wolle die Entwicklung von Initiativen und Anträgen im Netz fördern und mit Antrags- und Rederechten auf Parteitagen versehen. Was denken Sie, wenn Sie das heute lesen?

Guter Plan! Nein, ernsthaft, ich begrüße das ausdrücklich. Der Bundesparteitag hat zwar 2003 bereits in Bochum entschieden, dass der Virtuelle Ortsverein Antragsrecht bekommen soll. Aber das ist leider bis heute nicht vom Parteivorstand umgesetzt worden.

War das verweigerte Antragsrecht einer der Gründe, weshalb Sie 2007 nach zehn Jahren Vorsitz des VOV nicht noch einmal für den Posten kandidierten?

Sicher auch, ja. Wobei ich das Thema „Netzpolitik“ mehr als Staffellauf sehe. Und da rennen jetzt eben die nächsten ein Stück weiter. Ich hatte 2007 – nach knapp 12 Jahren im Netz – meine Prioritäten wieder in die reale Politik zurück verlegt. Online im Netz hieß ja nichts anderes als 365 Tage im Jahr Mitgliederversammlung zu haben. Da gehen einem auch irgendwann die Ideen aus. Das war eine meiner Erfahrungen mit dem VOV, der 1995 auf dem Bundesparteitag in Mannheim initiiert und 1997 vom Parteivorstand als Arbeitskreis anerkannt worden war.

Sie waren fünf Jahre lang ehrenamtliche Vorsitzende des Virtuellen Ortsvereins. Was hat Sie an diesem Posten besonders gereizt?

Meine Entscheidung, mich im VOV zu engagieren, war maßgeblich durch den Leitantrag „Von der Utopie zur Wirklichkeit: Aufbruch in die Informationsgesellschaft“, der 1997 auf dem Bundesparteitag angenommen wurde, beeinflusst worden. Der Leitantrag forderte, staatliche Regulierung im Netz weitestgehend zu reduzieren bzw. nur dann einzusetzen, wenn die Selbstkontrolle versage. Verbraucher- und Persönlichkeitsrechte, Jugend- und Datenschutz sollten im Mittelpunkt stehen, Urheberrechte und Leistungsschutz gesichert werden. Interessant, dass das, was heute im Netz engagiert diskutiert wird, nicht so neu ist. Der VOV, der Anfang 2000 über 1000 eingeschriebene Mitglieder (davon nur 10 Prozent Frauen) hatte, hat natürlich auch Anträge beschlossen, die es dem Parteivorstand nicht leicht gemacht haben, beispielsweise die Positionen zur Vorratsdatenspeicherung oder zum Software und Patentwesen. Aber Netzpolitik ist eben auch immer mehr gewesen als die Verabschiedung von Rundfunkstaatsverträgen, die in Hauptausschüssen von Landtagen stillschweigend durchgewunken werden.

Sie sind selbst sehr aktiv im Netz. Halten Sie die in den Anträgen zur Netzpolitik formulierten Forderungen nach mehr Teilhabe und Transparenz für durchsetzungsfähig in der Partei?

Also wenn ich mir anschaue, wie populär und attraktiv die Piratenpartei momentan für jüngere Menschen sind, hoffe ich, dass meine Partei nicht ihren Fehler aus den Achtzigern wiederholt, als sie das Umweltthema den Grünen überließ. Die aktuellen Diskussionen von Bundestrojaner über Netzsperren und Guttenberg-Plag bis hin zum Datenschutz auf Social-Media-Plattformen werden unsere Gesellschaft noch öfters beschäftigen. Da sollte die SPD schon eigene Positionen entwickeln.

Was wünschen Sie den politischen Netz-Initiativen für die Zukunft und welche Tipps können Sie ihnen mit auf den Weg geben?

Darf ich auch dem Parteivorstand einen Tipp geben?

Aber natürlich.

Ich hoffe,dass der Bundesparteitag im Dezember das Vertrauen in seine netzpolitischen Aktivisten setzt und dies offensiv durch die Einführung eines Antrags- und Rederecht auf Parteitagen dokumentiert. Munter geführte Netzdebatten machen die SPD gerade für junge Menschen, die ja mittlerweile alle durch das Netz sozialisiert wurden, interessant. Und an die Vertreter der Netzinitiativen gerichtet würde ich sagen, haltet durch. Es kommt sowieso so, wie ihr das heute diskutiert.

Vielen Dank für das Interview!