Es hat etwas länger gedauert, bis ich für mich realisiert habe, dass der Virtuelle Ortsverein (VOV) niemals weder Antrags- noch Rederecht in der SPD erhalten würde. Denn offensichtlich hatte “der Club” die Machtfrage gestellt. Oder zumindest fühlte sich das sozialdemokratische „Imperium“ durch die virtuellen Netzwerker herausgefordert. Vielleicht war auch die Art und Weise, wie die digitalen „Jedi-Ritter“ Netzpolitik machten, der „alten Tante SPD“ zu modern oder einfach nur fremd? Oder war der VOV nur ein Experiment, das sich für beide Seiten rückblickend als großes Missverständnis herausgestellt hat? Um all´ diese Fragen umfassend beantworten zu können, vorab einige Fakten. Bevor man die Ereignisse bewertet, um für eine zukünftige Netzpolitik in der SPD noch einmal neu die Weichen zu stellen.
Um verständlich zu machen, vor welchen Hürden der Virtuelle Ortsverein stand, ein kleiner Exkurs ins Organisationsstatut der SPD. Denn die Mehrzahl der Netzpolitiker, die sich dafür interessieren, sind vermutlich eher im Umgang mit imperialen Sturmtruppen vertraut. Und weniger mit einer Sozialdemokratie unter Führung von Gerhard Schröder, Franz Müntefering und Oskar Lafontaine.
Die Keimzelle der Sozialdemokratie ist der sogenannte Ortsverein. Davon gab es Mitte der 1990er-Jahre ungefähr 12.500 in Deutschland. Sie organisieren die politische Willensbildung „von der Basis nach oben“. Über Ortsvereine, Unterbezirke, Bezirke und Landesverbände bis zum Parteivorstand, dem „PV“, werden Beschlüsse nach Berlin durchgereicht. Dieser Prozess soll die demokratische Teilhabe aller Parteimitglieder an der Willensbildung sicherstellen. Was der SPD anlässlich der Mitgliederbefragung 2013 viel Aufmerksamkeit gebracht hat.
Für besondere Aufgaben können innerparteilich Arbeitsgemeinschaften und/oder Projektgruppen gebildet werden, die bei Parteitagen Antrags- und Rederecht haben. Der Virtuelle Ortsverein der SPD, kurz VOV, war 1997 jedoch „nur“ als Arbeitskreis gegründet worden. Was für die Umsetzung von virtueller in reale Politik Konsequenzen hatte. Aber, um beim „Krieg der Sterne“ zu bleiben, dort landen Han Solo, Chewbacca, Luke Skywalker und Prinzessin Leia nach ersten Scharmützeln auf dem Todesstern auch erstmal im Müllschlucker.
Ich hätte dieses Kapitel auch locker mit „Der lange Atem von Bundesgeschäftsführern“ überschreiben können. Um mich dann wieder der Frage zuzuwenden, warum die SPD von Gabriel & Nahles, trotz vieler guter Gesetze, in Umfragen wie festbetoniert um 25 Prozent dümpelt.
Doch je länger ich nach einem Treffen mit Aleksandra Sowa die Mails und Briefe zum VOV durchforst habe, umso klarer schob sich dieser eine Satz „… das Internet für die politische Arbeit der SPD erforschen“ wieder nach vorne. Was immer noch mit dem Gefühl einer Mission verbunden ist.
Der damalige Usenet-Beauftragte und Repräsentant des VOV, Boris Piwinger, hatte genau diesen Satz in die „Geburtsurkunde“ des Virtuellen Ortsvereins hinein formuliert. Und Franz Müntefering, damals noch in seiner Funktion als Bundesgeschäftsführer in Bonn in der Baracke tätig, hatte die Vereinbarung für die SPD am 27. Januar 1997 unterschrieben.
Rückblickend ist der VOV in der mehr als 150-jährigen Geschichte der SPD seit ihrer Gründung durch Ferdinand Lasalle sicher nur eine kurze Episode. Eine Partei, die es immer wieder schafft, mutig zwei Schritte nach vorn zu gehen. Um dann erschrocken über so viel Courage heftigst zurückzurudern. Aber vielleicht ist es ja genau diese besondere DNA, die meine Partei für die Wählerinnen und Wähler interessant macht? Und die Bevölkerung direkt nach dem Wahltag in tiefer Ratlosigkeit über das anschließende Vorgehen zurücklässt.
Zurück in die Zukunft
Über die Zukunft des Virtuellen Ortsvereins wollte ich fünf Jahre später, am 2. Juni 2002, mit Franz Müntefering sprechen. Da ich von 1999 bis 2002 Referentin für elektronische Medien im Willy-Brandt-Haus gewesen war und für spd.de seine „General-Chats“ organisiert hatte, kannten wir uns. Doch da Gerhard Schröder im Sommer 2002 in allen Umfragen deutlich hinter Edmund Stoiber lag, bat mich Kajo Wasserhövel, der damalige Büroleiter von „Münte“, einen Termin nach der Bundestagswahl im September zu vereinbaren.
Der VOV war 1995 von einer Handvoll junger, engagierter Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten auf dem Parteitag gegründet worden, der als „Putsch von Mannheim“ in die Geschichte der SPD eingehen sollte. Im Januar 1997 folgte dann die formale Anerkennung als „Arbeitskreis von Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten im Internet“ in Bonn. Im gleichen Jahr übrigens, als die SPD den Leitantrag „Auf dem Weg in die Informationsgesellschaft“ in Hannover verabschiedete.
Der VOV, so unser Flugblatt von 1996, sei ein Zusammenschluss von Menschen, die „der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands angehören oder nahestehen“ und ausschließlich über das Internet zusammenkommen. Als nicht eingetragener Verein sollte sich der Arbeitskreis selbst organisieren und nur mithilfe „elektronischer Postverteiler“ bzw. öffentlich in Diskussionsforen, den sogenannten Newsgroups, miteinander kommunizieren. Die politischen Diskussionen sollten sich schwerpunktmäßig „mit rechnergestützter Kommunikation und der Entwicklung der Informationsgesellschaft“ beschäftigen. Andere Themen wären jedoch nicht ausgeschlossen. Das klang damals alles sehr modern und innovativ. Und deshalb wurde ich Mitglied im Club.
Die Möglichkeiten des Internets für die politische Arbeit der SPD erforschen
Wer sich heute per Smartphone durchs Netz oder die „Sozialen Medien“ navigiert, dem zaubern Begriffe wie „elektronische Postverteiler“ oder „Newsgroups“ vermutlich ein fragendes Grinsen auf die Stirn. Doch was im Jahr 2015 rückblickend nach tiefster digitaler Steinzeit klingt, war vor weniger als zwanzig Jahren der virtuellen Avantgarde in Deutschland vorbehalten.
Damals gab es weder Google noch Facebook oder geschweige denn Amazon. Dafür aber grässlich fiepende Modems des Staatsunternehmens „Deutsche Bundespost“, mit denen man sich auf die „Datenautobahn“ einwählen konnte.
Und es gab Helmut Kohl, der 1994 die Zuständigkeit für den Ausbau der „Informations-Highways“ bei den Verkehrsministern der Länder verortete.
Was uns damals im VOV einte, war so etwas wie ein unfassbar cooles Lebensgefühl.
Wir spürten, dass diese digitale Revolution unseren Alltag umkrempeln würde. Und natürlich wollten wir bei diesem Prozess aktiv mitmischen. Weil uns interessierte, wie sich die Menschen, die mit dieser neuen Technologie umgingen, veränderten und welche Auswirkungen das Internet auf unsere Gesellschaft insgesamt haben würde.
„91 Prozent Männer können nicht irren.“
1997 hatten gerade einmal 6,5 Prozent der Bevölkerung ab 14 Jahren in Deutschland Zugang zum Internet. Soziodemografisch betrachtet war die große Mehrheit der 4,11 Millionen Nutzern männlich, berufstätig, mit überdurchschnittlichem Ausbildungsniveau und zwischen 20 und 39 Jahren alt. Auf drei männliche Onlineanwender kam damals eine Anwenderin. Was nicht für den VOV galt, dort pendelte die Frauenquote konstant um zehn Prozent.
1997 bin ich übrigens von einem Journalisten gefragt worden, warum sich der VOV ausgerechnet eine Frau als Vorsitzende gewählt habe. „91 Prozent Männer können sich nicht irren“, habe ich ihm mit einem netten Smiley zurückgeschrieben.
Der Weg ins Internet war 1997, wenn man nicht gerade studierte, den „Besserverdienern“ vorbehalten. Denn ein PC der Pentiumklasse mit 486er-Prozessor kostete je nach Zusatzausstattung (Grafikkarte, Soundkarte etc.) damals zwischen 3.000 und 5.000 D-Mark. Und der Versand einer einzigen E-Mail – Flatrates gab es ja noch nicht – zehn Pfennig. Wobei der Versand von Fotos und Videos ein so geballtes Datenvolumen erzeugte, dass solch unangekündigte Post die Sprengkraft einer „Mailbombe“ aufs hauseigene Modem entfaltete.
Die digitale Avantgarde der SPD
In dieser „digitalen Jungsteinzeit“ sollte also der Virtuelle Ortsverein die neue Form der elektronischen Kommunikation für die Partei erproben und seine Selbstorganisation in Wahlen und Abstimmungen weiterentwickeln. Und das so gewonnene Know-how den Parteigliederungen selbstverständlich unentgeltlich zur Verfügung stellen. Außerdem sollte der Club die Darstellung der SPD im Internet optimieren. Was einfacher klingt, als es de facto war. Besonders wenn man wie ich keinerlei Erfahrung im Umgang mit „Trollen“ hatte.
In weit über 30.000 Mails haben die Mitglieder des Virtuellen Ortsvereins von 1997 bis 2002 über einen Server, den der damalige Bundestagsabgeordnete Jörg Tauss finanzierte, über SPD-Politik im Allgemeinen und die Entwicklung der Informationsgesellschaft im Besonderen diskutiert. Die virtuelle Konferenz des VOV tagte rund um die Uhr, einer war immer zum Chatten online, und das sieben Tage die Woche und 365 Tage im Jahr. Was sich deutlich vom Parteileben der realen Ortsvereine unterschied, wo sich die Mitglieder meist nur einmal im Monat in der Regel abends zur innerparteilichen Willensbildung zusammenfanden.
24 Stunden täglich, sieben Tage die Woche, 365 Tage im Jahr Mitgliederversammlung
Das „Rund-um-die-Uhr-Mitmachangebot“ des VOV entpuppte sich schnell als innerparteiliche „Marktlücke“ und führte zu einem stürmischen Mitgliederzuwachs von 1997 (300 Mitglieder) bis 2002 (über 1.000 Mitglieder). Hatte das Durchschnittsalter 1997 noch bei 34 Jahren gelegen, so war es bis 2002 auf 39 Jahre angestiegen. 85 Prozent der Virtuellen besaß auch im realen Leben ein SPD-Parteibuch. Und fünf Prozent der VOV-Mitglieder lebte, zumeist beruflich bedingt, außerhalb der Bundesrepublik Deutschland.
Das exponentielle Wachstum des Clubs konnte allerdings nicht den gravierenden Webfehler in der innerparteilichen Demokratie übertünchen. Denn alle Anträge im VOV, waren sie auch noch so gut durchdacht, begründet und basisdemokratisch beschlossen – zum Recht auf Information, zum Datenschutz, Domaingrabbing und Identitätsdiebstahl, zur Zukunft der Internetregulierung, zu Softwarepatenten oder zur Vorratsdatenspeicherung –, sie alle krankten an politischer Folgenlosigkeit.
Denn das Organisationsstatut der SPD ließ nur Anträge auf Parteitagen zu, die von realen Ortsvereinen, Arbeitsgemeinschaften und Projektgruppen verabschiedet worden waren. Und da der VOV „nur“ ein Arbeitskreis war, hatten die Beschlüsse den Status einer digitalen Luftnummer. „Aber gut, dass wir zumindest drüber geredet haben“, schrieb mir damals ein Mitglied.
Das Recht auf Information
1998 sprach sich der VOV auf Initiative des früheren Vorsitzenden Heino Prinz für ein „Recht auf Information“ aus. Denn Demokratie, so unser Gedanke, setze gut informierte Bürgerinnen und Bürger voraus. Da die in öffentlichen Verwaltungen zunehmend digital erhobenen Daten durch automatisierte Verfahren miteinander verknüpft wurden, befürchteten wir eine wachsende Informationsungleichheit zwischen Behörden und Bürgern. Informationen öffentlicher Verwaltungen, so unsere Forderung, sollten deshalb allgemein zugänglich gemacht und Ausnahmen in einem Bundesgesetz geregelt werden.
In Anlehnung an die Empfehlung des Europarats zu Informationszugangsrechten von 1981 forderten wir die rot-grüne Bundesregierung auf, eine entsprechende Harmonisierung auf europäischer Ebene anzustreben. Politisch sollte unsere Forderung im SPD-Regierungsprogramm 2002 im Kapitel „Verwaltung geht online“ Eingang finden. Doch die Antragsprüfungskommission des Parteivorstandes lehnte den Beschluss kurz und knapp mit der Begründung „Der VOV ist nicht antragsberechtigt“ ab.
„Gut, dass wir drüber geredet haben.“
Was natürlich zu Unmut im VOV führte. Und der Entscheidung, uns nicht mehr mit sachlich richtigen, aber in der Partei folgenlosen Schaufensteranträgen begnügen zu wollen.
Die Virtuelle Konferenz beschloss, um die Anerkennung als Projektgruppe, der das Antrags- und Rederecht auf Parteitagen zusteht, zu kämpfen. Denn wir wollten unsere umfangreichen und praxisnahen Erfahrungen mit dem virtuellen Raum und unsere digitale Kompetenz in reale Politik umgesetzt sehen. Und da führt nun mal in der Sozialdemokratie kein Weg am Antragsrecht vorbei.
Vielleicht waren wir im Frühjahr 2002 – Axel Schudak und ich waren gerade wieder als Vorsitzende gewählt worden – auch zu optimistisch? Oder zu naiv? Aber was sollte einer Anerkennung als Projektgruppe mit Sonderstatus – begründet durch ihre digitale Arbeitsform – prinzipiell im Wege stehen? Um den Anforderungen des Parteiengesetzes zu genügen, war der VOV bereit, seine Richtlinien ans Parteiengesetz anzupassen.
Nichtparteimitglieder an der Meinungs- und Willensbildung beteiligen
Faktisch standen wir natürlich vor einigen Hürden. Denn im Gegensatz zu realen Parteigliederungen konnten sich im VOV immer auch Nichtmitglieder an der Meinungs- und Willensbildung beteiligen. Diese Öffnung ins reale Leben der Arbeiterklasse hatte sich als ausgesprochen fruchtbar erwiesen.
Der VOV profitierte von der Kompetenz von IT-Beschäftigten, die übrigens aufgrund ihrer realen Arbeitszeiten kaum den Weg in eine Mitgliederversammlung der SPD gefunden hätten. „Verabschiedet euch doch bitte mal von der Idee, dass jeder, der 1998 SPD gewählt hat, auch Mitglied in eurer Partei werden will“, schrieb mir ein VOV-ler. Als ich entgegnete, dass die SPD auf Mitgliedsbeiträge zur Finanzierung ihrer politischen Arbeit angewiesen sei, weil wir erheblich weniger Spenden als CDU und FDP erhalten, erntete ich meistens nur Achselzucken oder beredtes Schweigen.
Das „sozialdemokratische Wirtstier“ aufgeben
Es gab schon einen Weg, unsere Anträge bis zum Bundesparteitag durchzubringen. Doch dazu mussten wir immer eine Art „sozialdemokratisches Wirtstier“ anzapfen. Also einen mit unseren Beschlüssen sympathisierenden Ortsverein, dessen Delegierte die Anträge des VOV über Mitgliederversammlung, Bezirks- oder Landesparteitag bis zum Bundesparteitag durchboxten. Dieses Verfahren empfand die Mehrheit im VOV nach sieben Jahren „Probezeit“ jedoch der Demokratie unwürdig. Wir wollten eigenverantwortlich an der politischen Willensbildung in unserer Partei mitwirken. Und nicht nur den Exotenstatus genießen, mit dem sich der PV öffentlich in Broschüren schmückte („Die SPD ist die erste Partei in Deutschland, die einen virtuellen Ortsverein gegründet hat“) und ansonsten für Wahlen nur hübsche, günstige und bunt blinkende Banner produzieren sollte.
Virtueller Ortsverein – lebendige Streitkultur
Auch wenn wir nur virtuell untereinander agierten, eine lebhafte Streitkultur – wie sie in den 1970er-Jahren unter Willy Brandt, Helmut Schmidt und Herbert Wehner üblich gewesen war – wurde natürlich auch im VOV gepflegt. Man(n) – oder Frau – wird ja nicht unpolitisch, wenn man nur schreibt.
Doch die Parteifunktionäre, die zwischen 2002 und 2007 zu entscheiden hatten, ob der Virtuelle Ortsverein an der innerparteilichen Willensbildung der SPD beteiligt wird oder nicht, hatten Probleme mit ihren digitalen Genossinnen und Genossen, die sich nicht an die eingeübte Rechts-Links-Netzwerk-Arithmetik der Partei halten wollten. Und offensichtlich damit drohten, den ihnen zugewiesenen „virtuellen Sandkasten“ verlassen zu wollen, um mitzumischen.
Wer heute in Facebook (2004 gegründet) oder auf Twitter (2006 gegründet) unterwegs ist, hat in der Regel bereits einen „Shitstorm“ erlebt. Oder überlebt. Oder auch nicht. Auch im VOV zählten digitale Rempeleien und „flame wars“ zum gepflegten Umgang auf den Mailinglisten. Unliebsamer Zeitgenossen oder „Trolls“ entledigte man sich dann meistens per „Kill-File“. Oder zoffte fröhlich mit, um Frust über die Politik von Gerhard Schröder und Joschka Fischer loszuwerden.
Kern unserer Demokratie ist der Meinungsbildungsprozess
Gründe für digitale Scharmützel gab es unter Rot-Grün ja mehr als genug. Denn plötzlich standen Themen wie Modernisierung des Staatsbürgerschaftsrechts, Green-Card-Initiative, ökologische Steuerreform, Rentenreform, Atomausstieg, Entschädigung der Zwangsarbeiter, Anerkennung von Lebenspartnerschaften, Schulen ans Netz, Haushaltskonsolidierung, BSE-Kühe, Umgang mit Asylbewerbern, Kosovo-Krieg und die CDU-Spendenaffäre auf der Agenda. Fulminant waren auch die Debatten im VOV, als Oskar Lafontaine im März 1999 den SPD-Parteivorsitz hinwarf und fürs Fernsehen am heimischen Gartenzaun mit Kind in Entenpantöffelchen posierte. Aber: Zum Kern unserer Demokratie gehört nun mal der Meinungsbildungsprozess, auch wenn der nicht immer in harmonisch „ausgemerkelten“ Bahnen verläuft.
Je nach Empfinden und innerparteilicher Lagerzugehörigkeit wurde der Regierungsstil von Schröder auch im VOV als pragmatisch, populistisch, sachorientiert oder visionslos abgestempelt. An diesem Punkt unterschied sich der virtuelle Ortsverein in keiner Weise von allen realen Ortsvereinen.
Nur dass es im VOV immer schneller mit der Meinungsbildung zur Sache ging. 100 bis 200 Mails binnen 24 Stunden zu einem politisch explosiven Gemisch zu verdichten, bereiteten dem Club null Probleme. Wobei ich in den insgesamt zehn Jahren als Vorsitzende die Erfahrung gemacht habe, dass Ironie sich leider nicht wirklich per Mail vermitteln lässt. Und dass das Fehlen nonverbaler Kommunikation kaum durch noch so nett gemeinte Emoticons kompensiert werden kann.
Weichenstellung in Bochum 2003
Aus dem von Kajo Wasserhövel im Juni 2002 in Aussicht gestellten Termin mit Münte wurde dann leider nichts. Denn nach der Bundestagswahl im September wechselte die Parteiführung Generalsekretär und Bundesgeschäftsführer. Und statt Franz Müntefering und Matthias Machnig waren nun Olaf Scholz und Franz-Josef Lerch-Mense meine Ansprechpartner im Willy-Brandt-Haus. Und da in Hessen und Niedersachsen Landtagswahlen anstanden – die die SPD übrigens beide verlor – und Gerhard Schröder im März 2003 mit seiner „Agenda 2010“ auf die politische Bühne preschte, bekamen Iliya und ich erst am 7. April 2003 einen Termin im Willy-Brandt-Haus in Berlin.
Ein Antragsrecht, das sich nur auf die Kernthemen des VOV beschränke, war laut Bundesgeschäftsführer weder mit dem Organisationsstatut der SPD noch mit dem Parteiengesetz in Deutschland vereinbar. Ein allgemeines Antragsrecht zu allen politischen Themen empfand der PV dagegen als zu weitgehend. Aber, so Lerch-Mense, der VOV könne seine Anträge zur IT-Gesetzgebung und zur Informationsgesellschaft gerne direkt an das Büro des Bundesgeschäftsführers leiten, damit der Parteivorstand Einblick in die inhaltliche Arbeit des Arbeitskreises erhalte. Außerdem würde man den VOV und seine digitale Kompetenz beratend für IT-Anträge anderer Gruppierungen hinzuziehen.
Die Virtuelle Konferenz hat diese Vorschläge lange diskutiert. Und sich mit überwältigender Mehrheit dafür entschieden, die Frage „Antragsrecht ja oder nein“ von den Delegierten des Bundesparteitags in Bochum entscheiden zu lassen. Unser Ziel war die rechtsverbindliche Anerkennung mit allen daraus resultierenden Rechten und Pflichten für den Club. Und nicht eine, wenn auch sicher gut gemeinte, unverbindliche Abhängigkeit von wechselnden Funktionären in der Parteizentrale.
Das bedeutete, dass wir für unsere Pläne nach einem „sozialdemokratischen Wirtstier“ Ausschau halten mussten. Der Frankfurter Ortsverein Sachsenhausen-Ost brachte unseren Antrag „Anerkennung des VOV (Virtueller Ortsverein) als Projektgruppe“ zum Bundesparteitag in Bochum ein.
Und der SPD-Bezirksgeschäftsführer von Hessen-Süd, Karlheinz Pfaff, und Dr. Matthias Kollatz-Ahnen, heute Finanzsenator in Berlin, sorgten dafür, dass der A 264 „VOV (Virtueller Ortsverein) als Projektgruppe“ die Klippen in der Antragsprüfungskommission (APK) überwand. Der Parteivorstand solle, so verzeichnete es das Sitzungsprotokoll, das Anliegen „wohlwollend“ prüfen.
Am 19. November 2003 war es endlich so weit. Die 450 Delegierten des Bochumer Parteitags stimmten dafür, den Status des VOV von einem Arbeitskreis in eine Projektgruppe, „dem das Antrags- und Rederecht für Bundesparteitage zusteht“, umzuwandeln. Damit hatten wir die wichtigste innerparteiliche Hürde genommen. Dachten wir auf der Party in Bochum. Und machten uns so ausgelassen wie Han Solo, Chewbacca und die Droiden auf den Weg nach Alderaan.
Einen Schritt vor, zwei Schritte zurück
Wer „Krieg der Sterne“ gesehen hat, weiß, wie ungemütlich es plötzlich zwischen herumfliegenden Asteroiden werden kann. Keiner von uns ahnte zu diesem Zeitpunkt, zu welchen innerparteilichen Verwerfungen die „Agenda 2010“ führen würde. Im März 2004 warf Gerhard Schröder entnervt das Handtuch als Parteichef. Und Franz Müntefering kehrte als Parteivorsitzender ins Willy-Brandt-Haus zurück. Kajo Wasserhövel löste Franz-Josef Lersch-Mense als Bundesgeschäftsführer ab. Und vereinbarte umgehend mit Sascha Boerger und Iliya Nickelt, dass der VOV seine Richtlinien ans Organisationsstatut der Partei anpassen sollte. Was Sascha prompt erledigte.
Am 8. Dezember 2004 beriet die Kommission für Organisationspolitik den Antrag 264 und empfahl dem Parteivorstand die Umwandlung des VOV vom Arbeitskreis in eine Projektgruppe. Anfang 2005 sollte der PV dem Vorschlag routinemäßig zustimmen. „Reine Formsache“ beschied man uns. Doch dazu kam es nicht. Was nicht am VOV lag, sondern an den durch die „Agenda 2010“ heraufbeschworenen Turbulenzen.
Im März 2005 erhielt zunächst Heide Simonis (SPD) in Schleswig-Holstein trotz vier geheimer Wahlgänge keine Mehrheit mehr als Ministerpräsidentin. Und am 22. Mai 2005 verlor Peer Steinbrück als Spitzenkandidat die Landtagswahl in NRW.
Schröder sah seine Reformpolitik beschädigt und forderte umgehend Neuwahlen. Darauf erklärte Oskar Lafontaine seinen Austritt aus der SPD, um als Spitzenkandidat von WASG und PDS bei der vorgezogenen Bundestagswahl anzutreten.
„Das Internet ist für uns alle Neuland.“
Auch Angela Merkel (CDU) kündigte einen „engagierten und beherzten Wahlkampf“ an. Und seit dem 18. September 2005 wird Deutschland von einer Kanzlerin regiert, für die das Internet noch im Jahr 2013 „Neuland“ war.
Das Jahr 2005 endete übrigens dann auch in der SPD mit Neuwahlen. Denn Müntefering hatte Kajo Wasserhövel für die Position als Generalsekretär vorgeschlagen, doch der Parteivorstand entschied sich mit 23 zu 14 Stimmen für Andrea Nahles. Darauf erklärte der Parteichef, dass er beim anstehenden Bundesparteitag nicht mehr kandidiere. Auf Münte folgte Matthias Platzeck, damals Ministerpräsident des Landes Brandenburg. Und Hubertus Heil wurde Generalsekretär. Und Martin Gorholt „mein“ vierter Bundesgeschäftsführer, den ich über die Ziele des VOV „aufklären“ sollte.
EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung abgelehnt
Bereits im Sommer 2005 hatten die EU-Innen- und -Justizminister erklärt, dass sie alle Telekommunikationsanbieter zur Speicherung sämtlicher Verbindungs- und Standortdaten, die beim Telefonieren, Mailen, SMS-Versand, Surfen, Chatten oder File-Sharing anfallen würden, für mindestens sechs Monate verpflichten wollten. Das ging weit über die damals in Deutschland geltende Speicherfrist von 80 Tagen hinaus. Der VOV sah darin einen Großangriff auf die Privatsphäre der Bürgerinnen und Bürger und forderte einen Datenschutz, der die „Balance der Grundrechte“ wahrt. Eine Pflicht zur verdachtsunabhängigen Speicherung von Verbindungsdaten für die Zwecke der Strafverfolgung gab es damals ja noch nicht. Denn Bundestag und Bundesrat hatten noch 2004 die Einführung der Vorratsdatenspeicherung im Rahmen der Novellierung des Telekommunikationsgesetzes abgelehnt.
Ein Datenvolumen von 639.360 CDs pro Tag am DE-CIX
Allein am DE-CIX, dem deutschen Internetknoten in Frankfurt, war im Sommer 2005 ein Datenumsatz von 40 Gigabit pro Sekunde gemessen worden. Umgerechnet entspricht das 639.360 CDs am Tag. Oder, falls man das Datenvolumen auf DIN-A4-Seiten ausdrucken möchte, zirka 81 Millionen gefüllte Aktenordner.
Einen so gigantischen digitalen Heuhaufen nach terroristischen Stecknadeln zu durchforsten, erschien mir damals als echte Herausforderung. Wobei man diese Frage seit den Enthüllungen von Edward Snowden, in welchem Umfang der US-Geheimdienst das Internet heute global und verdachtsunabhängig überwacht, sicher neu bewerten muss.
Für unsere Positionen zur Vorratsdatenspeicherung, zum Datenschutz oder zum Identitätsdiebstahl – ich hatte zu dem Zeitpunkt bereits juristische Erfahrung mit dem „3-2-1- und doch nicht meins“ bei eBay – interessierte sich die damalige Bundesjustizministerin Brigitte Zypries.
Gemeinsam mit Jens Hoffmann, Andreas Bieber und Helmut Pohl trafen wir uns am 14. September 2005 in Darmstadt. In der Frage der Vorratsdatenspeicherung hielt sie die „Deutsche Liste“ – sechs Monate Speicherung von Verbindungsdaten, keine Speicherung der Inhalte – für ausreichend. Doch seit den Terroranschlägen auf das World Trade Center drängte Bundesinnenminister Schily, dass alle Provider in Deutschland ihre Verbindungsdaten für mindestens ein Jahr aufbewahren sollten.
Reale und virtuelle Ordnungsmaßnahmen
Im Mai 2005 hatte Sascha Boerger auf Wunsch des SPD-Justiziars bereits zum zweiten Mal die Richtlinien des VOV überarbeitet. Strittig war das Kapitel „Ordnungsmaßnahmen“. Fakt war, wenn jemand im Virtuellen Ortsverein zu arg „trollte“, konnte er die Schreibrechte durch die Moderation entzogen bekommen. Diese „Sanktionsmaßnahme“ wäre nach der Anerkennung als Projektgruppe ausgeschlossen. „Spezifische Ordnungsmaßnahmen oder Entscheidungsgremien über Ordnungsmaßnahmen außerhalb der Parteigerichtsbarkeit“ werde die Partei nicht zustimmen, teilten uns die Juristen mit. Der PV „dulde keine Nebenpartei“ in der SPD. Nur, logisch zu Ende gedacht, wie sollte der VOV, wo ausschließlich schriftlich über Mailinglisten miteinander kommuniziert wurde, damit umgehen? In jedem Ortsverein kann das Rederecht entzogen werden. Im VOV waren das analog die Schreibrechte. Wobei wir erlebt hatten, dass der Entzug der Schreibrechte durch gefälschte Identitäten umgangen werden konnte. Aber um diesen Punkt einvernehmlich zu regeln, bat Sascha den Justiziar „höflichst um alternative Formulierungen“.
Im November 2005 teilte uns die Antragsprüfungskommission mit, dass der Parteivorstand zugesagt habe, den Bochumer Antrag „in Kürze“ zu behandeln. Wenige Tage später erhielt Sascha weitere Vorgaben von den Juristen. Erstens: Der VOV solle sein Wahlverfahren exakt in der Satzung regeln. Okay, abgehakt. Zweitens: Spenden seien zukünftig an die Partei zu leisten, die diese dann als Zuschüsse an den VOV abführen würde. Auch ein Haken dran. Und drittens: VOV-Mitglieder, die nicht der SPD angehörten, würden bei Parteiordnungsverfahren nicht der Entscheidungskompetenz einer SPD-Schiedskommission unterliegen. Für diese Fälle würde es „ausreichen, wenn der Vorstand eine Ordnungsmaßnahme beschließt und das Mitglied sich dann beschwerdeführend an die virtuelle Konferenz wende“. Auch dem Punkt stimmte die Virtuelle Konferenz zu.
Gehe nicht über Ziel – ziehe eine Ereigniskarte
Im Frühjahr 2006 sollte es also so weit sein. Doch Matthias Platzeck erkrankte und gab den Parteivorsitz auf. Ihm folgte der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Kurt Beck, der die SPD öffentlich als „moderne Mitgliederpartei“ pries, da bereits über 50 Prozent der Neumitglieder online eintreten würden. Formal zuständig für den VOV wurde der stellvertretende Parteivorsitzende Jens Bullerjahn, heute Finanzminister in Sachsen-Anhalt, der für den Bereich „Parteiorganisation“ verantwortlich zeichnete. Sascha berichtete nach einem weiteren Gespräch im Willy-Brandt-Haus, dass das Mitgliedernetz „SPD.online“ zur Community-Plattform umgebaut werden sollte. Und in diesem Zusammenhang der VOV zur Projektgruppe „erhoben“ würde. Was ich aus unerfindlichen Gründen irgendwie nicht glauben konnte.
Der VOV verändert sich …
Denn nicht nur der PV, auch der Virtuelle Ortsverein hatte sich seit der „Agenda 2010“ Debatte und der Einführung der Hartz-IV-Gesetze verändert. Die Diskussionen auf der Interpol-Liste drehten sich zwar immer noch um Urheberrechtsfragen, Identitätsmissbrauch, Wahlcomputer, GEZ-Gebühren, Rotlicht-Domains, Jugendschutz, Informationsfreiheitsgesetz oder Einsicht ins Vertragswerk des Maut-Konsortiums. Doch faktisch behandelten nur noch zehn Prozent der Postings im VOV das eigentliche Kernthema des Clubs. 90 Prozent der Beiträge drehten sich um Tagespolitik im Allgemeinen oder die SPD als Organisation im Besonderen. Auch an unserer Technologie nagte der Zahn der Zeit. Denn E-Mails schreiben erschien den Jüngeren unattraktiv. Doch aus Solidarität mit den Geringverdienern in der Partei – nicht jeder konnte sich 2005 schon eine DSL-Flatrate leisten – wollten wir so lange wie möglich an der Mailinglisten-Technologie festhalten. Und dadurch wirkte der VOV halt auch ein bisschen „verstaubt“.
… und Willy gehört einer Verwertungsgesellschaft
Dann bekam ich wieder Post. Allerdings nicht aus Berlin, sondern aus Bonn. Von der VG Bild-Kunst. „Wie wir festgestellt haben, werden auf Ihrer Website www.tursky-hartmann.de Werke unserer Mitglieder Rainer Fetting, Hans Haacke und Joseph Kosuth wiedergegeben, ohne dass hierfür eine erforderliche Genehmigung seitens der VG Bild-Kunst oder des Nachlasses vorliegt.“ Ich hatte, wie Hundertausende vor mir, die Skulptur von Willy Brandt fotografiert und das Foto auf meiner privaten Homepage veröffentlicht. Ohne mir bewusst zu sein, dass eigene Aufnahmen von Kunstwerken für eigene Onlinepublikationen der Lizenzierung durch eine Verwertungsgesellschaft bedürfen. Damit hätte ich das „Recht der öffentlichen Zugänglichmachung“ nach § 19 Urheberrechtsgesetz (UrhG) verletzt.
Fotos von Kunstwerken online zu stellen, so die VG Bild-Kunst, bedürfe der Genehmigung der Rechtsinhaber. Ausnahmen gelten, wenn a) die Schutzdauer von 70 Jahren nach dem Tod des Künstlers abgelaufen sei, oder b) das Werk sich dauerhaft an „öffentlichen Wegen, Straßen oder Plätzen“ befindet. Dann greife nach § 59 UrhG die „Panoramafreiheit“. Kunstwerke, die sich dagegen im Innenraum eines öffentlich zugänglichen Gebäudes befinden, dürfen aufgrund einer „Schrankenregel“ nicht so einfach fotografiert werden. Sollte ich die Fotos also nicht umgehend entfernen oder eine Lizenz erwerben, würde die VG Bild-Kunst nach § 97 UrhG „Unterlassungs-, Auskunfts- und Schadensersatzansprüche“ geltend machen. Ich habe dann zwölf Euro Lizenzgebühr gezahlt, um mein eigenes Foto von Willy auf meiner eigenen Homepage veröffentlichen zu dürfen und den PV davon informiert. Dass die Ikone der SPD einer Verwertungsgesellschaft gehöre, hat dann auch den Bundesgeschäftsführer Martin Gorholt überrascht.
Weniger überraschend war dagegen der Stand der Dinge betreffend Antragsrecht für den VOV. Man könne den Club vorübergehend an die Medienkommission des PV anbinden, schlug Gorholt im Gespräch im August 2006 vor. Solange das Problem mit der Doppelmitgliedschaft, also Mitglied im realen Ortsverein und im VOV zu sein, nicht gelöst sei. Meinem Einwand, dass diese Problematik doch alle Arbeitsgemeinschaften und Projektgruppen tangiere – also dass Frauen sowohl per Geschlecht Mitglied in der Arbeitsgemeinschaft der Frauen (AsF) sind und gleichzeitig im zugeordneten Ortsverein Stimmrecht hätten –, hat er bejaht. Als ehemaliger Sprecher der Juso-Hochschulgruppen hat Martin Gorholt übrigens genau dieses „doppelte“ Antragsrecht zwanzig Jahre zuvor für die Studierenden gegen den Willen des PV durchgeboxt. Der Bundesgeschäftsführer bat mich um eine Frist von maximal zwei Monaten, um noch einmal prüfen zu lassen, wie man das Antragsrecht für den VOV gestalten könne. Wobei wir uns einig waren, dass die SPD solche Strömungen in der Gesellschaften kanalisieren müsse, um politisch nicht den Anschluss an neue Wählerschichten zu verlieren. Und ich dachte, okay, läuft. Nach vier Jahren Warten sollte es mir auf zwei Monate auch nicht mehr ankommen.
Der „Bundestrojaner“ bringt das Fass zum Überlaufen
Keine sechs Monate später, am 11. Februar 2007, ist mir dann doch der reale Kragen geplatzt. Denn die Virtuelle Konferenz hatte sich gegen den Einsatz von „Bundestrojanern“ ausgesprochen. Und mich als Vorsitzende auf die Suche nach einem sozialdemokratischen Wirtstier geschickt. „Eigentlich sollten wir im Oktober 2006 die Nachricht erhalten, ob der PV das Antragsrecht für den VOV endgültig ablehnt oder nicht, schrieb ich daraufhin an den Bundesgeschäftsführer nach Berlin. […] Ich meine, seid so ehrlich und sagt, nö, wir warten, bis ihr weggestorben seid oder so was. Was wir erhalten, oder besser, was wir bis heute nicht erhalten haben, ist eine vernünftige Antwort. […] Klar hat der PV viel zu tun, und klar stört so ein linker Club sicher auch die Kreise des ein oder anderen. Aber wofür wollt ihr neue Mitglieder gewinnen? Die nächste Generation, die jetzt eintreten soll, ist noch stärker IT-affin, als der VOV es war und der PV es jemals werden wird. Was wollt ihr jungen Leuten als Plattform anbieten?“, schrieb ich dem Bundesgeschäftsführer in einer wenig internettigen Mail nach Berlin.
… der Würfel ist gefallen
Diese Mail beschleunigte nun endlich die Entscheidung. Leider nicht in die gewünschte Richtung. Aber immerhin teilte uns am 28. Februar 2007 „der Imperator“ ganz analog per Brief mit, dass er „die bisher diskutierte Idee, den VOV zu einer Projektgruppe des Parteivorstandes zu machen“ für „keinen geeigneten Weg“ mehr halte. Außerdem sei eine Projektgruppe, so Martin Gorholt, zeitlich befristet, d. h., sie benötige „einen Anfang und ein Ende“. Der Anerkennung des VOV als offizielle Projektgruppe stünden leider „zahlreiche rechtliche Probleme (z. B. Status von Nichtmitgliedern, geheime Wahl, Rechenschaftspflicht über Mittelverwendung) entgegen“ und verwies auf den umfangreichen Schriftwechsel mit den Juristinnen und Juristen des Willy-Brandt-Hauses.
Es sei ihm unbenommen, entgegnete Sascha per Brief, das alles als Privatperson so zu sehen. Nur stünde die persönliche Meinung des Bundesgeschäftsführers im Widerspruch zum Beschluss des Bundesparteitags von Bochum. Zumal, wenn eine solche Absage knapp vier Jahre benötige. Die letzte Version der Satzung mit den Juristen des PV habe übrigens keine Punkte mehr enthalten, die einer Anerkennung entgegengestanden hätten. Denn die Mitarbeit von Nichtmitgliedern sei laut Organisationsstatut der SPD (Stichwort „Gastmitgliedschaft“) machbar. Und was die Mittelverwendung betreffe, verfüge der VOV immer noch nicht über eigene Finanzmittel. „Jörg Tauss (MdB) betreibt seit Jahren bei einem ISP einen Hostingserver (Mietmaschine) und stellt damit die technische Plattform für den VOV bereit. Sämtliche Programmierung, Wartung und Pflege des Systems erfolgen ehrenamtlich.“ Doch für den Parteivorstand war der Fall mit dem persönlichen Basta des Bundesgeschäftsführers erledigt.
Ich habe leider viel zu spät begriffen, dass es ein Fehler war, allein auf einen demokratisch zustande gekommenen Beschluss eines Bundesparteitags zu setzen. Ich empfinde es allerdings auch als zutiefst undemokratischen Vorgang, dass ein einzelner Funktionär mit einem Parteitagsbeschluss nach Gutsherrenart umgehen darf. Aber, man muss sich auch ehrlich eingestehen, wenn man gescheitert ist. Und dann die Verantwortung für die politische Niederlage übernehmen. Vielleicht fehlte mir damals auch so etwas wie das notwendige Aussitzfleischgen eines Helmut Kohl? Aber wäre ich dann gegenüber der Virtuellen Konferenz noch glaubwürdig gewesen? Was, wenn man mit der verliehenen „Macht“ eines Wahlamtes überhaupt nichts gestalten kann? Und ja, es hatte auch mit Selbstachtung zu tun. Und sicher auch mit neuen Zielen im realen Leben. Was in der Summe alles zusammen dazu führte, dass ich bei den Vorstandswahlen Anfang 2008 nicht mehr für den Vorsitz kandidiert habe.
Glaubwürdige Experten mit Know-how zulassen
Meine Entscheidung hatte zumindest den Vorteil, dass ich mich nicht mehr darüber ärgern musste, dass die SPD in der Großen Koalition mit der CDU entgegen aller Parteiprogrammatik sowohl die Vorratsdatenspeicherung als auch Onlinedurchsuchungen plötzlich sexy fand. Und Netzsperren verhindern auch keinen Kindesmissbrauch, auch wenn „Zensursula“ genau das mantraartig verbreitete. Das wussten Gott sei Dank die rund 134.000 Unterzeichner der elektronischen Petition beim Deutschen Bundestag dann doch besser. Trotzdem votierte die damalige SPD-Bundestagsfraktion für das sogenannte Zugangserschwerungsgesetz. Was zur Folge hatte, dass der „Online-Beirat“ der SPD, den Kurt Beck im Sommer 2007 mit illustren Vertretern der Blogger- und Multimediaszene als Beraterkreis für den PV bestellt hatte, aus Protest seine Tätigkeit einstellte.
Für jüngere Politikerinnen und Politiker ist es heutzutage völlig selbstverständlich, Dienste wie Twitter oder Facebook für die politische Kommunikation einzusetzen. Aber reicht das aus, das Vertrauen netzpolitisch interessierter Bürgerinnen und Bürger zu gewinnen? Nachdem sich die Piratenpartei politisch selbst versenkt hat und die FDP nicht mehr im Bundestag vertreten ist, hätte die SPD übrigens gute Chancen, ihr eigenes Profil in der Frage, wie es mit den Bürgerrechten in der Informationsgesellschaft weitergeht, zu schärfen.
… am 5. September 2011 wird der Netzstecker gezogen – der VOV ist Geschichte
Mit Astrid Klug – der sechsten und letzten für den VOV zuständigen Bundesgeschäftsführerin (wir überspringen jetzt mal den Bundesgeschäftsführer Nummer fünf, Kajo Wasserhövel, und das Drama vom Schwielowsee) – haben Maritta (Strasser) und ich am 5. September 2011 den Netzstecker des Clubs im Willy-Brandt-Haus gezogen und die Domain des VOV dem Parteivorstand übertragen. Gedacht war, dass unter www.vov.de eine Linksammlung netzpolitischer Aktivitäten der SPD entstehen sollte. Im Rahmen der Parteireform hatte die damalige Generalsekretärin Andrea Nahles das Themenforum „Netzpolitik“ mit Rede- und Antragsrecht für alle netzpolitisch Interessierten angeregt. Aus Erfahrung mit der Diskussionskultur im VOV und dem „Klartext“ von www.spd.de habe ich mir zum Abschied in Berlin erlaubt, eine Moderation für die politischen Debatten im Netz zu empfehlen. Abschließend vereinbarten wir, dass der Server des VOV der Friedrich-Ebert-Stiftung oder dem Archiv der Sozialdemokratie in Bonn für Forschungszwecke übergeben werden sollte. Falls irgendwann einmal ein Historiker oder eine Historikerin untersucht, wie die Sozialdemokratie versuche, „das Internet für die politische Arbeit der SPD [zu] erforschen“.