Axel Schudak (2015): Zwei Anekdoten aus der aktiven Arbeit im VOV

Kryptoverbot

1997 versuchte die Bundesregierung, damals unter Bundesinnenminister Kanther (CDU), eine „Regulierung“ von Kryptographie auf den Tisch zu bringen, die effektiv auf ein Verbot starker Kryptographie hinausgelaufen wäre. In der Entwicklung dieser Debatte wurde ich damals von Jörg als „Experte“, konkret in meiner Eigenschaft als damaliger Geschäftsführer des DT Online-Verlags, zu einer Sitzung der SPD-Mitglieder des verantwortlichen Ausschusses nach Bonn eingeladen.

Das damals zusammen mit einem anderen VOVler (Jens oder Arne??) ausgearbeitete Hauptargument unserer Seite war die Aussage, dass mittels Steganographie die Verwendung von Kryptographie überhaupt nicht nachweisbar ist, das also ein Verbot technisch leicht umgangen werden kann. Wenn gängige Verfahren von Unternehmen und Privatpersonen nicht genutzt werden dürfen, während kriminelle Kommunikation keinen nachweisbaren Einschränkungen unterliegt, kann ein entsprechendes Verbot nicht angemessen sein. Zwar glaube ich nicht, dass wir einen messbaren Einfluss auf die Entscheidungsfindung hatten, aber letztendlich wurde die Idee begraben.

Bis vor einigen Monaten.

Der britische Premier Cameron beschwert sich über die Möglichkeit, kryptographisch abgesichert zu kommunizieren, und unser Innenminister de Maizière äußert Sympathie. Das Kryptoverbot steht damit wieder im Raum

Softwarepatente

Mein zweiter physikalischer Auftritt im Rahmen des VOV war ein 6-Augen-Gespräch, dass Arne Brand und ich im Sommer 2000 – exakt am Tag nach den Wahlen in den USA – in Berlin im Justizministerium bei unserer Schirmherrin Herta Däubler-Gmelin zum Thema Softwarepatente hatten. Ich kann mich noch gut entsinnen, wie ich mit Arne auf dem Weg von Hannover nach Berlin im Auto über die Wahl in den USA sprach, und dass man wohl so lange zählen würde, bis das Ergebnis in Florida passt…

Die Position des VOV zum Thema Softwarepatente war eine relativ orthodoxe Umsetzung der Gesetzeslage. Wir vertraten die Auffassung, dass „Programme für Datenverarbeitungsanlagen“ nicht patentierbar sind. Unsere Grundmotivation war, Entwickler von Software bei Eigenentwicklungen von Ansprüchen Dritter freizuhalten.

Diese Position wurde von verschiedenen Ländern damals schon aufgeweicht. Insbesondere in den USA wurden Patente erteilt, die dieser ursprünglich auch dort vertretenen Grundidee teils deutlich widersprachen. Die Unterschiede in der Patentpraxis führten dazu, dass in den USA Patente auf Verfahren angemeldet wurden, die man vorher in Europa entwickelt, aber nicht patentiert hatte.

Offensichtlich wurde zu diesem Zeitpunkt im Justizministerium darüber nachgedacht, Softwarepatente weitergehend zuzulassen. Unseren Bedenken wurde entgegengehalten, dass für wichtige Verfahren ggf. eine Zwangslizenz angeordnet werden könne, um die allgemeine Entwicklung nicht zu behindern. Soweit ich mich entsinne, haben Arne und ich die Praktikabilität einer Zwangslizenz angezweifelt.

Ich glaube nicht, dass Arne und ich (als Vertreter des VOV) einen nachhaltigen – oder auch nur bemerkbaren – Einfluss auf die Entwicklung von Softwarepatenten nehmen konnten, die nun, seit 40 Jahren, je nach Stimmung offener oder restriktiver gehandhabt wird.

Axel Schudak (2015): Online-Wahlen im VOV

Geheime Wahlen?

Mit der Gründung des VOV stellte sich schnell das Problem, dass wir zur Besetzung der verschiedenen Funktionen Wahlen durchführen mussten. Glücklicherweise waren wir nicht die Ersten, die zu einem potentiell heftig umstrittenen Thema in Online-Netzen eine Einigung per Abstimmung zustande bringen mussten: Usenet-Gruppen waren uns da um einiges voraus.

Da ich an einigen solcher Abstimmungen teilgenommen hatte und über eine private Internet-Standleitung nach Hause verfügte, erklärte ich mich bereit, die ersten Wahlen im VOV durchzuführen.

Die eigentliche Wahl fand – wie damals unsere gesamte Kommunikation – über eine Mailingliste und eine Stimmabgabe per E-Mail statt – es war also jedem Teilnehmer klar, dass zumindest der Wahlleiter die Stimmabgabe lesen konnte, eine „geheime“ Wahl also nicht im letztendlichen Sinne der Definition stattfand. Üblicherweise wird in einer Usenet-Abstimmung sowohl der Name des Abstimmenden als auch seine Stimmabgabe veröffentlicht, was Manipulationen ausschließt. Da eine Personenwahl geheim sein sollte, haben wir auf die Auflistung der Stimmabgabe verzichtet. Es war also anfangs ein Vertrauensprinzip.

Gleich unsere erste Abstimmung über die zukünftige Leitung des VOV war von grundsätzlicher Natur, da sich mit Heino Prinz und Jakob von Weizsäcker zwei Vertreter völlig unterschiedlicher Ausrichtungen zur Wahl stellten – Heino war eher ein Generalist, der den VOV für die Debatte allgemeiner Themen nutzen wollte, während Jakob eher für eine Konzentration der politischen Arbeit auf netzorientierte Themen eintrat. Ich war erklärter Anhänger der zweiten Fraktion. Die Abstimmung ergab eine Mehrheit von nur einer Stimme für Heino – eine Richtungsentscheidung, die ich auch heute noch für unglücklich halte.

Manipulationssichere Wahlen

Nach diese Abstimmung war mir klar, dass kein Wahlleiter die Möglichkeit haben sollte, durch falsche Auszählung – oder auch nur das „versehentliche“ Verlieren einer Mail – das Ergebnis zu manipulieren. Es musste also eine Möglichkeit geben, sowohl die Abgabe der Stimme zu prüfen – kein Problem, indem die Liste der Wahlteilnehmer veröffentlicht wird – als auch die korrekte Zählung der abgegebenen Stimme.

Hierzu wurde dann für die folgenden „geheimen“ Wahlen neben dem Namen des Wählenden auch ein von ihm frei gewähltes Kennwort gefordert, so dass eine Stimmabgabe die Authentifizierung (über den Namen), das Kennwort und die Stimme enthielt. Veröffentlicht wurden dann die Liste der Teilnehmer sowie separat davon die Liste der Kennwörter jeweils mit Stimme sowie das sich daraus ergebende Ergebnis. Eine Manipulation des Ergebnisses war so nicht mehr möglich, ohne dass es den Betroffenen auffiel. Jeder konnte für sich prüfen, ob seine Stimme gezählt wurde und ob seine Stimme richtig ist. Über die verfügbaren Namenslisten war sichergestellt, dass keine zusätzlichen Stimmen eingeschmuggelt wurden. Das Verfahren haben wir für Personenwahlen und ggf. geheime Abstimmungen so beibehalten, wobei wir alle thematischen Abstimmungen öffentlich durchgeführt haben.

KEINE geheimen Wahlen – Wahlmaschinen?

Der Nachteil des Verfahrens liegt natürlich auf der Hand: die Wahl ist nicht wirklich „geheim“. Einerseits hat der Wahlleiter die Möglichkeit, die Stimmen einzusehen – auch wenn die Auszählung später von einem Programm durchgeführt wurde. Gleichzeitig konnte durch Vereinbarung des Kennworts die Abgabe einer Stimme durch Dritte überprüft werden.

An dieser Stelle gab es zwar interne Überlegungen eine „Wahlmaschine“ zu schreiben, in der z. B. vom Wähler Stimme und Kennwort an einen Server, sowie Kennwort und Authentifizierung an einen anderen Server gesendet werden, wobei der eine Server dem anderen den Wahlzettel freigibt. Aber der Aufwand erschien uns den Vorteil für die Nutzung im VOV nicht wert zu sein.

Mit diesem Verfahren würde man zur Zuordnung einer Stimme zu einem Wähler zwar beide Administratoren anstatt nur eines Wahlleiter benötigen, die nachträgliche Kontrollmöglichkeit durch Dritte würde aber verbleiben. Dieses spezielle Problem würde sich nur lösen lassen, wenn man auf die Veröffentlichung der Kontrollliste komplett verzichtete.

Aber…

… im demokratischen Prozess muss das Wahlverfahren für jeden transparent sein. Ein „Vertrauen“ in den Wahldurchführenden DARF nicht vorausgesetzt werden. Die Vorgänge innerhalb einer „Wahlmaschine“ werden für den Durchschnittswähler immer undurchschaubar bleiben. Und die Manipulation von Software wird immer schwerer zu erkennen sein als die Manipulation einer manuellen Auszählung.

Ein Verfahren mit bekannten Schwachstellen ist immer einem Verfahren vorzuziehen, das auf einem „Vertrauen“ beruht, dass schon keine Manipulation stattfinden wird. Dort, wo politische Macht wirklich vergeben wird – zugegebenermaßen nicht im VOV –, MUSS das Verfahren transparent und nachvollziehbar sein – ein Urteil, das 2009 so auch das Bundesverfassungsgericht in Bezug auf Wahlmaschinen und Onlinewahlen bestätigt hat.
Insofern waren alle Personalwahlen, die wir durchgeführt haben, nur insoweit geheim, als der Wahlleiter potentiell Zugang zu den individuellen Stimmabgaben hatte, als auch jeder Abstimmender seine Stimmabgabe anderen gegenüber nachweisen konnte. Andere Online-Verfahren haben aber immer auch andere, meines Erachtens nach schwerwiegendere, Nachteile. Es gibt kein Online-Wahlverfahren, das geheim, nachprüfbar und transparent ist.

Schlussfolgerungen zum Verfahren

Eine Schlussfolgerung dieser Überlegungen für mich war und ist, dass politische Macht durch Wahlzettel in Kabinen vergeben werden sollte. Es gibt kein Online-Wahlverfahren und keine Wahlmaschine, dem man hierbei „trauen“ darf. Der Verlust an Glaubwürdigkeit und das erhöhte Manipulationsrisiko ist die Einsparung an Geld oder Zeit nicht wert.

Eine Ausnahme ist das Hinterlassen einer „vollständigen Papierspur“ bei lokaler Kontrolle des Zugangs zur Maschine – aber wegen der notwendigen Kontrollzählungen ist es deutlich günstiger, gleich auf diese Maschinen zu verzichten.

Heute

Durch die Verbreitung von Handykameras ist mittlerweile Stimmenkauf zu einer lösbaren logistischen Aufgabe geworden. Auch dem sollte die Politik vorbeugen, indem Handys grundsätzlich aus Wahlkabinen verbannt und Briefwahlen untersagt werden. Der Vorteil einer erhöhten Beteiligung durch Briefwahl wird gegenüber den wachsenden Manipulationsmöglichkeiten an Wert verlieren – eine Beobachtung der Wahlergebnisse der Briefwahlen durch statistische Methoden erscheint bereits heute geboten.

Missbrauch von Abstimmungen

Ein Ziel des VOV war, jeden Teilnehmer am politischen Prozess zu beteiligen. Hierzu standen Abstimmungen jedem Mitglied offen. Dies führte leider dazu, dass Themen zur Abstimmung gestellt wurden, die inhaltlich schädlich für den VOV waren (auch wenn sie kaum Chancen auf Zustimmung hatten). Als Beispiel sei insbesondere ein recht heftiger Angriff auf unsere Schirmherrin Herta Däubler-Gmelin wegen ihrer Tätigkeit als Justizministerin angeführt. Ich hatte in diesem Fall ernsthaft überlegt, die entsprechende Abstimmung einfach aus Verantwortung des Amtes abzulehnen und ggf. über meine Ablehnung (und Position als Wahlleiter) abstimmen zu lassen, statt über das ursprüngliche Thema. Da „man“ – insbesondere der Autor der Abstimmung – dem VOV-Vorstand damals u. a. vorwarf, „Andersdenkende“ durch Regularien auszubooten, habe ich mich gegen meine Idee entschieden und die Abstimmung – mit dem zu erwartenden Ergebnis – durchgeführt.

Rückblickend betrachtet wäre ein wenig mehr politische Arbeit an vielen Stellen – auch bei der Wahlleitung – dem Gesamtprojekt VOV dienlich gewesen. Mein Verständnis des Amtes als rein organisatorische Dienstleitung stand dem hier entgegen.

Maritta Strasser (2012): Frisch gewagt ist fast gewonnen: Abenteuer virtueller Ortsverein

maritta strasser 2012
Maritta Strasser 2012 © privat

Man könnte es für eine Idee der Piraten halten, und für eine neue Idee: Parteiarbeit im Netz. Jede Parteigliederung bekommt zusätzlich zur vorhandenen Struktur einen virtuellen Versammlungsraum, dort wird diskutiert, werden Ideen entwickelt, Beschlüsse gefasst. Ganz genau so, als würde man sich in einem Raum gegenüber sitzen. Das ist der Vorschlag von Olaf Scholz für den Landesparteitag der SPD am morgigen Samstag. Es leuchtet ein, dass das digitale Parteiarbeit ungeheuer praktisch ist. Und viele hoffen, dass sie die SPD attraktiver macht. Ist diese Hoffnung berechtigt?

Die Idee eines virtuellen Ortsvereins ist tatsächlich bald 20 Jahre alt. Zu einer Zeit, als ich noch kein Mobiltelefon besaß und Helmut Kohl Kanzler war, 1995, wurde ich Mitglied und wenig später Vorsitzende des Virtuellen Ortsvereins der SPD (VOV). Mitglieder des VOV halfen dem Parteivorstand bei der Erstellung des ersten Internetauftritts, sie übernahmen die erste Online-Berichterstattung von Parteitagen. Diskutiert und gewählt wurde über Mailinglisten.

Es stellte sich sehr bald heraus, dass das Internet eben nicht nur Medium, sondern auch liebstes Thema des VOV war. Es ging um Urheberrecht und Kopierschutz, um Überwachung, die Verfolgung von Straftätern und Datenschutz, um Informationsfreiheit, Online-Wahlen, direkte Demokratie und um Sicherheitsrisiken durch unüberlegte Nutzung der Technik, wie zum Beispiel Spam und Viren.

Teilweise wurden über die Listen auch Dinge diskutiert, die mit dem Internet nichts zu tun haben. Aber diese Diskussionen hatten stets weniger Interessenten und kamen seltener zu Ergebnissen wie konkreten Beschlüssen und Pressemitteilungen, als die netzpolitischen Initiativen. Es gab darüber hinaus auch wenig Geduld im Umgang miteinander, was die unterschiedlichen Interessensphären der Mitglieder betraf. Die „Technik-Nerds“ gaben den unbedarften Neumitgliedern ohne großes technisches Vorwissen ordentlich Saures, wenn diese die verpönten html-Mails verschickten anstatt das Textformat der reinen Lehre zu verwenden. Diskussionen über soziale Themen wurden von ihnen als „langweiliges Gelaber“ abgetan, was von der anderen Seite den nicht ganz unberechtigten Vorwurf einbrachte, die Leute verhielten sich elitär und bedienten sich einer kryptischen Sprache.

Überhaupt: Konfliktverhalten via E-Mail – ein Thema für Diplomarbeiten. Was es genau ist, das bei manchen Menschen offenbar jede Hemmung vor Kraftausdrücken und Verletzendem außer Kraft setzt, sobald man sich via Bildschirm und Tastatur austauscht anstatt von Angesicht zu Angesicht – ich wüsste es gern. Witziger Weise sind dieselben, meist männlichen Mitglieder, die eben noch als verbale Berserker die Mailinglisten aufgemischt haben, oft ganz umgänglich wenn man sie beim Bier trifft (Club Mate gab es damals auch noch nicht).

An mich als Vorsitzende wurde oft die Bitte herangetragen, zu moderieren. Mir stand neben der Warnung nur das ganz scharfe Schwert zur Verfügung, den Übeltäter eine Zeit lang das Recht zu entziehen, Mails auf unsere Listen zu schicken. Aber bis wir diese Möglichkeit, gelbe und rote Karten zu verteilen in unserer Satzung verankert hatten, wurden viele Kilobyte anstrengender Diskussionen versendet, und so manches Neumitglied wandte sich mit Grausen ab.

Ich möchte die Delegierten des Hamburger Parteitags ermutigen, das Experiment erneut zu wagen. Es hat damals Leute zur SPD gebracht, die sonst nicht den Weg zu ihr gefunden hätten und wird dies sicher heute wieder tun.

Aber ich möchte Euch einige Tipps mitgeben. Gebt Euren virtuellen Ortsvereinen eine durchsetzungsfähige Moderation mit, damit das Diskussionsklima für alle angenehm bleibt. Erlaubt eine Vielfalt an Themen und Interessen und macht es zugleich möglich, dass die Mitglieder Diskussionen, die sie nicht interessieren auch ignorieren können. Macht Euch Gedanken über eine möglichst flexible und ausbaufähige Technik, mit der alle möglichen Informationskanäle und Medien zusammengefasst werden: Blogs und Termine, Kommentare und Bilder, Tweets und andere Social Media Inhalte.

Die wichtigste Schnittstelle ist aber nicht die zwischen unterschiedlichen digitalen Medien, sondern die zwischen den virtuellen und den normalen Parteigliederungen. Der erste virtuelle Ortsverein ist genau daran letztlich gescheitert: Die Mitglieder hatten das Gefühl, dass ihre Arbeit nicht in der Partei ankam. Wenn die virtuellen Gliederungen bloß unverbindlich diskutieren dürfen, und ohne Einfluß auf Entscheidungen bleiben, dann wird sich sehr schnell Frust breit machen.

Ich habe unsere Domain www.vov.de dem Parteivorstand der SPD übertragen in der Hoffnung, dass bald ein neues Projekt auf dieser Domain entsteht. Frisch voran, Hamburg! Ich würde mich wirklich sehr freuen.

Maritta Strasser ist Kommunikationsexpertin mit langjähriger Erfahrung unter anderem als Pressesprecherin des Bundesministeriums für Justiz, beim Zentralrat der Juden in Deutschland sowie für den Verband der deutschen Internetwirtschaft (eco) e.V., als Mitarbeiterin beim Deutschen Bundestag und als Beraterin in einer namhaften Berliner PR-Agentur und als Leiterin der Abteilung Kommunikation im Max-Delbrück-Centrum für molekulare Medizin in Berlin-Buch (MDC). 2012 war sie Fraktionsgeschäftsführerin einer Landtagsfraktion.

Links: Virtueller Ortsverein (VOV)

vorwärts Interview (2011): Ausgebremst: Der „Virtuelle Ortsverein der SPD – VOV“

Petra Tursky-Hartmann
Petra Tursky-Hartmann © Alexander Paul Englert

vorwärts.de: Die Chancen des Internets für die Demokratie nutzen, dafür wirbt einer der Leitanträge auf dem diesjährigen Bundesparteitag. Darin steht: „Wer sich nicht im Ortsverein engagieren will, kann sich online ein geeignetes Mitmachangebot suchen.“ Das klingt ganz nach dem, was der “ Virtuelle Ortsverein“ bereits Mitte der neunziger Jahre verkörperte. Ist der VOV noch aktiv?

Petra Tursky-Hartmann: Den Virtuellen Ortsverein gibt es zwar noch, aber er spielt in netzpolitischen Debatten faktisch keine Rolle mehr. Netzpolitische Debatten in der SPD haben sich in andere Initiativen verlagert, wie den Gesprächskreis Netzpolitik beim SPD-Parteivorstand. Oder den Online-Beirat, der bis 2009 aktiv war. Ich kenne aus Facebook außerdem einige sehr aktive Arbeitskreise, zum Beispiel aus Schleswig-Holstein oder Baden-Württemberg.

Der VOV hat lange mit dem Parteivorstand um ein Antragsrecht gestritten. Im Leitantrag heißt es nun, die SPD wolle die Entwicklung von Initiativen und Anträgen im Netz fördern und mit Antrags- und Rederechten auf Parteitagen versehen. Was denken Sie, wenn Sie das heute lesen?

Guter Plan! Nein, ernsthaft, ich begrüße das ausdrücklich. Der Bundesparteitag hat zwar 2003 bereits in Bochum entschieden, dass der Virtuelle Ortsverein Antragsrecht bekommen soll. Aber das ist leider bis heute nicht vom Parteivorstand umgesetzt worden.

War das verweigerte Antragsrecht einer der Gründe, weshalb Sie 2007 nach zehn Jahren Vorsitz des VOV nicht noch einmal für den Posten kandidierten?

Sicher auch, ja. Wobei ich das Thema „Netzpolitik“ mehr als Staffellauf sehe. Und da rennen jetzt eben die nächsten ein Stück weiter. Ich hatte 2007 – nach knapp 12 Jahren im Netz – meine Prioritäten wieder in die reale Politik zurück verlegt. Online im Netz hieß ja nichts anderes als 365 Tage im Jahr Mitgliederversammlung zu haben. Da gehen einem auch irgendwann die Ideen aus. Das war eine meiner Erfahrungen mit dem VOV, der 1995 auf dem Bundesparteitag in Mannheim initiiert und 1997 vom Parteivorstand als Arbeitskreis anerkannt worden war.

Sie waren fünf Jahre lang ehrenamtliche Vorsitzende des Virtuellen Ortsvereins. Was hat Sie an diesem Posten besonders gereizt?

Meine Entscheidung, mich im VOV zu engagieren, war maßgeblich durch den Leitantrag „Von der Utopie zur Wirklichkeit: Aufbruch in die Informationsgesellschaft“, der 1997 auf dem Bundesparteitag angenommen wurde, beeinflusst worden. Der Leitantrag forderte, staatliche Regulierung im Netz weitestgehend zu reduzieren bzw. nur dann einzusetzen, wenn die Selbstkontrolle versage. Verbraucher- und Persönlichkeitsrechte, Jugend- und Datenschutz sollten im Mittelpunkt stehen, Urheberrechte und Leistungsschutz gesichert werden. Interessant, dass das, was heute im Netz engagiert diskutiert wird, nicht so neu ist. Der VOV, der Anfang 2000 über 1000 eingeschriebene Mitglieder (davon nur 10 Prozent Frauen) hatte, hat natürlich auch Anträge beschlossen, die es dem Parteivorstand nicht leicht gemacht haben, beispielsweise die Positionen zur Vorratsdatenspeicherung oder zum Software und Patentwesen. Aber Netzpolitik ist eben auch immer mehr gewesen als die Verabschiedung von Rundfunkstaatsverträgen, die in Hauptausschüssen von Landtagen stillschweigend durchgewunken werden.

Sie sind selbst sehr aktiv im Netz. Halten Sie die in den Anträgen zur Netzpolitik formulierten Forderungen nach mehr Teilhabe und Transparenz für durchsetzungsfähig in der Partei?

Also wenn ich mir anschaue, wie populär und attraktiv die Piratenpartei momentan für jüngere Menschen sind, hoffe ich, dass meine Partei nicht ihren Fehler aus den Achtzigern wiederholt, als sie das Umweltthema den Grünen überließ. Die aktuellen Diskussionen von Bundestrojaner über Netzsperren und Guttenberg-Plag bis hin zum Datenschutz auf Social-Media-Plattformen werden unsere Gesellschaft noch öfters beschäftigen. Da sollte die SPD schon eigene Positionen entwickeln.

Was wünschen Sie den politischen Netz-Initiativen für die Zukunft und welche Tipps können Sie ihnen mit auf den Weg geben?

Darf ich auch dem Parteivorstand einen Tipp geben?

Aber natürlich.

Ich hoffe,dass der Bundesparteitag im Dezember das Vertrauen in seine netzpolitischen Aktivisten setzt und dies offensiv durch die Einführung eines Antrags- und Rederecht auf Parteitagen dokumentiert. Munter geführte Netzdebatten machen die SPD gerade für junge Menschen, die ja mittlerweile alle durch das Netz sozialisiert wurden, interessant. Und an die Vertreter der Netzinitiativen gerichtet würde ich sagen, haltet durch. Es kommt sowieso so, wie ihr das heute diskutiert.

Vielen Dank für das Interview!