„Bis Donnerstag können wir einen Antrag schreiben…“ berichtete ich meinen Mitarbeitern stolz am Mittwochmorgen nach einer nächtlichen Fraktionssitzung im Jahr 1995. Parlamentserfahrener als ich fielen sie beinahe in Ohnmacht. Tatsächlich klappte das allein schon wegen der formalen fraktionsinternen und parlamentarischen Abläufe nicht, als MdB innerhalb eines Tages einen Antrag zustande und dann auch formal auf den Weg zu bringen.
Dennoch gingen wir an die Arbeit und wandten uns wegen des besagten Antrags gezielt an die damaligen Compuserve-Foren. Das Thema ist mir leider entfallen. Und vom Erfolg zu überrascht, waren wir auch nicht in der Lage, den Vorgang zu dokumentieren. Die Resonanz war, einfach überwältigend. Im wahrsten Sinne des Wortes hatten Menschen weltweit am Text unseres Antrags gearbeitet. Da war der deutsche Wissenschaftler in L.A. ebenso beteiligt wie ein Zivi in Moskau oder eine Angestellte einer deutschen Firma in Tokio.
Dieser Vorgang war letztlich der Auslöser für die nächtliche Idee, einen virtuellen Ortsverein zu gründen. Ziel war weniger der Wunsch nach regionalem Geplänkel, sondern die Vernetzung von „Szenen“. Oft genug gibt – und gab es – im „normalen“ Ortsverein thematisch versierte Fachleute, die sich „mangels Masse“ nicht unter ihresgleichen vor Ort innerhalb der Partei austauschen konnten. Insofern war die ursprüngliche Überlegung, diese Fachleute oder thematisch Interessierte in entsprechenden Foren des VOV zu vernetzen und sie nicht allein dem „kuscheligen“ klassischen Ortsverein zu überlassen.
Auch wenn dieser Ansatz dann letztendlich nicht umgesetzt werden konnte, war Bürgerbeteiligungund ist diese Idee für moderne Parteien – und letztlich auch die Parlamentsarbeit – aus heutiger Sicht und nach viel Ernüchterung immer noch bestechend. Voraussetzung wäre allerdings, dass Partei(en) und Abgeordnete diese Chance für die eigene Arbeit wahrnehmen und sie nutzen. Allerdings war – mit einigen Ausnahmen – das Gegenteil der Fall.
Die einen befürchteten eine zusätzliche Arbeitsbelastung für ihre ohnehin überlasteten Büros. Andere schoben demokratietheoretische Erwägungen vor. So wäre, bei Umsetzung der „virtuellen Idee“, die Mehrheit des Parteivolks und erst recht die Bevölkerung von der Meinungsbildung ausgeschlossen. Gerade so, als sei an einer nicht internetbasierten Meinungsbildung und Gesetzgebung die Mehrheit der Bevölkerung schon immer beteiligt gewesen.
Diese Argumente der Gegner der Netzpolitik dominieren auch heute, 20 Jahre (sic!) nach der Gründung des ersten virtuellen Ortsvereins, immer noch den politisch-parlamentarischen Alltag. Bis heute gibt es keinen einzigen Bundestagsausschuss, der eine virtuelle Bürgerbeteiligung jenseits klassischer Anhörungen auch nur ansatzweise in Erwägung zieht. Chaotische Debatten in Foren einerseits und gewichtige politische Bremsklötze andererseits verhinderten und verhindern so parteiübergreifend die Idee technisch gestützter und unterstützter Meinungsbildung sowie eine breitere systematische Politikbeteiligung via Internet. Und dies eben in Partei(en) wie in Fraktionen und Parlamenten.
Die Beschäftigung mit diesen häufig verbrämten Widerständen prägten damals auch die „Hauptarbeit“ des VOV. Nicht ein parteiinternes Lob für diese zukunftsgerichtete und moderne Idee prägte damals den Aufbruch in die digitale Zeit, sondern der schneidige Besuch des Justiziars der SPD. Er forderte, dem VOV die Berechtigung zu entziehen, sich „sozialdemokratisch“ zu nennen. Schließlich könnte da ja jeder kommen….
Neben solchen Kämpfen waren die Aktiven des VOV zudem gezwungen, sich in Ermangelung netzpolitischer Fachleute im Politikbetrieb den Experten im Netz zuzuwenden. Dies wiederum führte dazu, als „Freak“ für weiche Themen“ in eine entsprechend belächelte Ecke gestellt zu werden. Insbesondere da man mit kräftiger sozialdemokratischer Hilfe das gute alte Postministerium abgeschafft hatte. Dies musste nicht unbedingt betrauert werden.
Aber mit der Verlagerung jeglicher Telekommunikationspolitik auf die Wirtschaft und den Markt waren auch über Jahre die parlamentarischen und die damit verbundenen personellen Strukturen nebst Kompetenzen für diesen Themenbereich weggebrochen. Natürlich ging es dabei auch schlicht um Macht und dem Erhalt hierarchischer Strukturen im Politikbetrieb. Und um schlicht Angst vor dem Neuen. Die beharrliche Weigerung, sich mit diesem „Neuen“ auseinander zu setzen, führt bis heute zu seltsam anmutenden „Neuland“-Diskussionen.
Das Internet ist der natürliche Feind des damaligen wie des heutigen Politikbetriebes. Dies zeigen die immer wieder geführten Debatten um Kryptoregulierungen, um ein modernes Urheberrecht oder um die Vorratsdatenspeicherung. Argumente zählen im Politikbetrieb nicht. (Sie zählten auch vor dem Internetzeitalter nicht. Nur fiel das damals bestenfalls einer Minderheit thematisch interessierter Menschen auf). mit der Etablierung der „Sozialen Netzwerke“ werden politische Unzulänglichkeiten heute nicht nur schnell bekannt, sondern auch umfassend verbreitet.
Dies führte und führt dazu, dass sich die herrschende „Politikkaste“ immer weiter von der netzpolitisch fachkundigen Szene entfernt. Dramatischer Höhepunkt und Ausdruck dieser Entwicklung war zweifellos 2009 die Auseinandersetzung um die Sperrung von Internetinhalten im Zusammenhang mit dem Zugangserschwerungsgesetz (Stichwort „Zensursula“).
Dies war, trotz des vorübergehenden Erstarkens der Piraten, der zentrale Bruch einer kompletten internetaffinen Generation mit dem klassischen Partei- und Politikbetrieb. Dieser Bruch ist durch sinnfrei geführte Debatten zur Vorratsdatenspeicherung oder durch die erbärmliche Haltung in der Frage, Edward Snowden Asyl zu gewähren, eher weiter vertieft worden.
Aus diesem Grund war auch der VOV und die später daraus hervorgehende Netzpolitik nur begrenzt in der Lage, wenigstens einen Teil dieser netzaffinen Generation an die SPD zu binden. Mittlerweile haben sich viele der damals Aktiven enttäuscht abgewendet.
Sie waren es schlicht und einfach leid, nach dem euphorischen Beginn nur noch formale Kämpfe um Antragsrecht oder Inhalte mit einem Apparat zu führen, der sie ablehnte. Auch als die SPD, wie später alle Parteien, das Netz für sich als schmückendes Modernitätssignal entdeckte, blieb es letztlich dabei, das Internet als Verbreitungsplattform für Verlautbarungen an das staunende Volk zu benutzen.
„Ihr werdet nie virtuell plakatieren können!“ Dieser Einwand des SPD-Ehrenvorsitzenden Hans – Jochen Vogel brachte es Jahre später unfreiwillig komisch auf den Punkt: Die alte Plakatkleisterpartei war überzeugt, dass sie innerparteilich gesiegt hatte. Gegenüber dem Virtuellen Ortsverein und letztlich gegenüber moderner Netzpolitik. Es wird noch lange brauchen, bis sie begreift, dass das ein nur schwer zu korrigierender Fehler gewesen ist. Eine Änderung ist da noch lange nicht in Sicht.